Selten, aber wichtig

Am 5. März 2011 fand am Universitätsklinikum Würzburg anlässlich des „International Rare Disease Day“ eine interessante Informationsveranstaltung statt. Die Teilnehmer erfuhren im Zentrum für Innere Medizin mehr über die Krankheitsbilder und Behandlungsangebote bei seltenen Erkrankungen. Auch die spezifischen Probleme der Betroffenen kamen zur Sprache. Zu den Zuhörern zählten Ärztinnen und Ärzte genauso, wie Studierende, Patienten und deren Angehörigen sowie interessierte Laien.

 

Eine Erkrankung gilt als "selten", wenn weniger als einer von 2.000 Menschen darunter leidet. „Zusammengenommen sind diese Krankheiten aber durchaus kein vereinzeltes Phänomen ‑ allein in Deutschland gibt es mehrere Millionen Betroffene“, verdeutlicht Gerald Brandt, Sprecher des Würzburger Arbeitskreises Seltene Erkrankungen (WAKSE). Dennoch bringe die geringe Zahl von Patienten eines spezifischen Krankheitsbildes eine Reihe von übergreifenden strukturellen Problemen mit sich. „In der Patientenversorgung bestehen zum Teil erhebliche Defizite in Diagnostik und Therapie. Betroffene können nicht adäquat versorgt werden, wenn eine korrekte Diagnose zu spät oder gar nicht erfolgen kann. Da die Erkrankungen oft mehrere Organsysteme betreffen, sind interdisziplinäre Therapieansätze erforderlich, die nur wenige spezialisierte Zentren leisten können“, so Brandt. Um Fakten wie diese in die Öffentlichkeit zu bringen, wird seit 2008 jährlich Ende Februar der „International Rare Disease Day“ veranstaltet. In diesem Jahr beteiligten sich das Würzburger Universitätsklinikum zusammen mit dem WAKSE erstmals mit einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung am Zentrum für Innere Medizin (ZIM).

„Bei der Behandlung von seltenen Erkrankungen kommt der guten Zusammenarbeit von Patienten, Ärzten, Forschern und Selbsthilfegruppen eine besondere Bedeutung zu. Nur so ist es unter anderem möglich, dass sich Krankenhäuser, wie das Würzburger Universitätsklinikum, Spezialkompetenzen mit europa- oder sogar weltweitem Ruf erarbeiten können“, erläuterte Brandt bei der Begrüßung zum Informationstag.

Weltweit größtes Zentrum für Nebennierenkarzinome

Ein Beispiel für ein solches besondere Kompetenzfeld am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) ist die Behandlung des Nebennierenkarzinoms. „Das Nebennierenkarzinom ist eine bösartige Erkrankung mit nur rund 100 Neuerkrankungen pro Jahr in Deutschland“, beschrieb Dr. Martin Faßnacht, Stellvertretender Leiter des Schwerpunkt Endokrinologie & Diabetologie an der Medizinische Klinik und Poliklinik I des UKW in seinem Vortrag. Aufgrund der Seltenheit der Erkrankung gab es bis vor zehn Jahren kaum Standards für die Diagnostik und Therapie. „Unter anderem durch die Etablierung des Deutschen Nebennierenkarzinomregisters und die Initiierung internationaler Studien hat sich die Uniklinik Würzburg in den letzten fünf bis acht Jahren zu einem der größten Zentren weltweit für diese Erkrankung entwickelt“, unterstrich Faßnacht. In dieser Zeit waren Würzburger Ärzte und Forscher maßgeblich an der Entwicklung der aktuellen Diagnostik- und Therapiestandards für das Nebennieren¬karzinom beteiligt. „Weitere Fortschritte sind allerdings nur über ein noch besseres Verständnis der Erkrankung durch verstärkte Grundlagen- und klinische Forschung zu erzielen“, betonte Faßnacht. Hierzu wird derzeit eine ganze Reihe von Projekten am UKW durchgeführt. 

 Gebündeltes Wissen zu Hypophosphatasie

Eine besondere Expertise besitzen die Universität und das Klinikum auch bei der Behandlung der Hypophosphatasie (HPP). Die angeborene Erkrankung des Knochen- und Mineralstoffwechsels kann in allen Lebensaltern auftreten und manifestiert sich in sehr unterschiedlichen Symptomen ‑ von nicht überlebensfähigen Frühgeburten bis zu schweren Skelett- und Organschäden. „In Würzburg wird die europaweit größte HPP-Patientengruppe ganzheitlich betreut von einem interdisziplinären Team aus den Bereichen Pädiatrie, Osteologie, Orthopädie, Neurochirurgie, Parodontologie und Humangenetik“, erläuterte Dr. Christine Beck von der Kinderklinik und Poliklinik des UKW. In ihrem Vortrag wies sie außerdem auf die Bedeutung der Beratungs- und Betreuungsleistungen durch den HPP-Selbsthilfe-Bundesverband hin, der von Würzburg aus organisiert wird. Für die nahe Zukunft ist laut Beck die Durchführung einer ersten europäischen Enzymersatzstudie an HPP-Patienten geplant, wobei das UKW als Studienzentrum dienen soll.

Herzzentrum im Aufbau

Eine Chance für Patienten mit seltenen Erkrankungen, die das Herz-Kreislaufsystem beeinträchtigen, ist das Comprehensive Heart Failure Center (CHFC). Das neue, vom Bundesforschungsministerium umfangreich geförderte Hochleistungszentrum wird derzeit von der Universität und dem Universitätsklinikum in Würzburg unter Beteiligung vieler Institute und Kliniken aufgebaut. Prof. Frank Weidemann von der Medizinischen Klinik und Poliklinik I kündigte in seinem Vortrag an, dass für Patienten mit seltenen Krankheiten mit Herzbeteiligung am CHFC eine Spezialambulanz eingerichtet werden wird. Er unterstrich auch die Bedeutung eines interdisziplinären Vorgehens bei vielen dieser Erkrankungen.

Diskussionsrunde mit Ärzten und Lobbyisten

An die Expertenvorträge schloss sich eine rege Diskussionsrunde an, bei der neben den vortragenden Würzburger Medizinern auch Karl-Heinz Klingebiel, Vorstandsmitglied der Allianz Chronische Seltene Erkrankungen e.V. (ACHSE) Rede und Antwort stand. Die ACHSE ist ein Zusammenschluss von etwa 100 Selbsthilfeorganisationen für Menschen mit seltenen Erkrankungen, die als nationaler Dachverband vor allem Aufklärungs- und politische Lobbyarbeit leistet. Themen der Diskussion waren unter anderem die Versorgung der Patienten in Spezialambulanzen, deren Einrichtung oft an bürokratischen Hürden scheitere. Überdies sei es schwer, die Betroffenen mit Medikamenten zu versorgen, da diese entweder sehr teuer oder nicht für seltene Krankheiten zugelassen seien. Wichtig sei vor allem eine ganzheitliche und wissenschaftlich begleitete Betreuung der Patienten, so wie sie in Würzburg bereits bei vielen seltenen Krankheiten Standard ist. Dementsprechend lobten die Vertreter der Selbsthilfe  das UKW ausdrücklich für sein Engagement in diesem Bereich. Gemeinsam mit dem Ärztlichen Direktor Prof. Reiners sollen künftig Gespräche darüber stattfinden, Würzburg auch offiziell zu einem bundesweiten Zentrum für Seltene Erkrankungen auszubauen.

 Infostände in der Magistrale

Zum Ausklang des International Rare Disease Day nutzten viele Besucher die Gelegenheit, an den in der Magistrale des ZIM aufgebauten Infoständen mit Betroffenenvertretern und ärztlichen Experten ins Gespräch zu kommen.

Den Vortrag von Herrn Karl-Heinz Klingebiel zur Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen finden Sie hier.


Weitere Informationen

Definition „Seltene Erkrankungen“:

•    nicht mehr als 5 von 10.000 Menschen
•    4 Millionen betroffene Menschen in Deutschland
•    mehr als 5.000 verschiedene Seltene Erkrankungen
•    meistens schwer diagnostizierbar
•    in 80% der Fälle genetischen Ursprungs
•    vor allem Kinder und Jugendliche

Merkmale von Menschen mit seltener Erkrankung:

•    langer Weg zur Diagnose
•    stark beeinträchtigte Lebensqualität und -dauer
•    fehlende oder unverständliche Informationen
•    Suche nach kompetenter Behandlung
•    kaum vorhandene Therapien
•    Mangel an erfahrenen Ärzten und nichtärztlichen Therapeuten
•    Isolation und Einsamkeit
•    Kampf um Anerkennung und gleichberechtigte Versorgung bei Ärzten, Kliniken und Versicherern

Quelle: Präsentation Herr K.-H. Klingebiel vom 05.03.2011

Das UKW bietet Patienten mit folgenden seltenen Erkrankungen Hilfe:

•    Hämatologie/Onkologie:
    - Hämophilie
    - Fanconi-Anämie
    - Nebennnieren-Ca
    - Merkelzell-Ca
    - Neurofibromatose
    - Kehlkopfpapillomatose
•    Krankheiten des Nervensystems:
    - Spinale Muskelatrophie
    - Amyotrophe Lateralsklerose
    - Muskelerkrankungen, Dystonien
    - Lewy-Körperchen-Demenz
    - Syndromale Kraniostosen
    - Auditorische Neuropathie               
    - Morbus Friedreich
•    Herz-Kreislauf-Krankheiten:
    - Pulmonale Hypertonie
    - Alpha-1-Antitrypsinmangel
    - Sarkoidose
    - Marfan/Ehlers-Danlos Syndrom
    - Velocardiofaciales Syndrom
•    Stoffwechsel-/Speicherkrankheiten:
    - Mukoviszidose
    - Hypophosphatasie
    - Morbus Fabry
    - Pompe
    - Gaucher
•    Seltene rheumatologische Erkrankungen:
    - Morbus Bechterew
    - Kollagenosen
    - Vaskulitiden

und noch weitere seltene Erkrankungen!