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Wie aus Weinen Sprache wird

Kathleen Wermke erforscht seit Jahrzehnten das Schreien, Weinen, Quieken und Brabbeln von Säuglingen und Kleinkindern auf fast allen Kontinenten. Ihre bahnbrechenden Erkenntnisse über Babylaute hat die Leiterin des Zentrums für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) nun in einem Buch unterhaltsam und fundiert zusammengefasst.

Cover des Buches Babygesänge
Im Buch „Babygesänge. Wie aus Weinen Sprache wird“ hat die Verhaltensbiologin Kathleen Wermke ihre Erkenntnisse aus mehreren Jahrzehnten Forschung unterhaltsam und fundiert zusammengefasst. @ Molden Verlag
Porträtbild Kathleen Wermke
Prof. Dr. Kathleen Wermke erforscht am Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) das Weinen und die vorsprachlichen Lautäußerungen von Babys aus der ganzen Welt. © Patty Varasano / Kathleen Wermke

Würzburg. Wer bei Prof. Dr. Kathleen Wermke arbeiten oder promovieren möchte, dem empfiehlt die Verhaltensbiologin und medizinische Anthropologin immer erst eine Probezeit von mindestens zwei Wochen: „Prüft, ob ihr das Weinen, Brabbeln und Gurgeln acht Stunden am Tag aushaltet.“ Die meisten ihrer Studierenden werden jedoch schon nach kurzer Zeit von den verschiedenen Melodien, Intervallen und rhythmischen Akzentuierungen in den Bann gezogen. Magie nennt es Kathleen Wermke. „Das Weinen und die vorsprachlichen Lautäußerungen, mit denen Gefühle und Bedürfnisse ausgedrückt werden, sind ein musikalischer Urgesang, den alle Babys auf der Welt beherrschen. Er ähnelt dem Gesang mancher Tiere. Aber nur aus dem Babygesang entwickelt sich eine gesprochene Sprache“, sagt Kathleen Wermke. Auf diesem Gebiet gebe es noch viel zu entdecken. 

Französische Babys weinen mit Akzent, japanische und schwedische komplex

Obwohl alle Neugeborenen in der Lage sind, jede noch so komplexe gesprochene Sprache der Welt zu erlernen, machen sich kulturelle Unterschiede bereits in den ersten Lauten bemerkbar, die Babys von sich geben. So haben Kathleen Wermke und ihr Team beobachtet, dass französische Babys tatsächlich mit Akzent weinen. Ihre Melodiekontur verläuft von tief nach hoch, während Babys deutschsprachiger Mütter mit fallender Melodiekontur, also von hoch nach tief, weinen. Wermkes Analysen zeigen auch, dass japanische und schwedische Neugeborene im Vergleich zu deutschen Babys deutlich komplexer weinen. Da die Variationen in der Melodiekontur nicht durch Unterschiede in der Anatomie des Kehlkopfes oder der Physiologie der Stimmproduktion erklärt werden können, scheint die Prosodie, wie die Sprachmelodie in der Fachsprache genannt wird, in der Umgebungssprache zu liegen.

Nso-Babys weinen in 8 Tonhöhen und spezifischen Tonhöhenverläufen

Dass bereits die ersten Schreie von Neugeborenen charakteristische Spuren der Muttersprache tragen, die das Ungeborene im letzten Schwangerschaftsdrittel kennenlernen konnte, wird besonders deutlich bei Sprachen, in denen unterschiedliche Tonhöhen die Bedeutung der Wörter bestimmen. Mandarin zum Beispiel, das in China, Taiwan und Singapur gesprochen wird, hat vier Tonhöhen. In der Lamnso-Sprache der Nso, einem ländlichen Volk im Nordwesten Kameruns, gibt es sogar acht Tonhöhen plus spezifische Tonhöhenverläufe. Das Weinen der Nso-Babys gleicht eher einem Singsang. Der Abstand zwischen dem tiefsten und dem höchsten Ton ist bei ihnen deutlich größer als bei Neugeborenen deutschsprachiger Mütter, und auch das kurzzeitige Auf und Ab der Töne während einer Lautäußerung ist intensiver. Kathleen Wermke schließt daraus, dass bereits vor der Geburt, im letzten Schwangerschaftsdrittel, eine Prägung durch die Sprechmelodie der Mutter stattfindet. Kaum auf der Welt, ahmen die Kinder diese Melodiemuster nach, indem sie durch Schreien und Gurren ihre Emotionen und Bedürfnisse ausdrücken. Auf diese Weise bauen sie eine natürliche Bindung zur Mutter und zur Gemeinschaft auf. „Ich bin überzeugt davon, dass ein besseres Verständnis der Babygesänge helfen kann, die physischen und kognitiven Anstrengungen wertzuschätzen, die Babys vollbringen, um mit ihrer Umwelt akustisch in Kontakt zu treten und eine emotionale Bindung zu Bezugspersonen über die Stimme herzustellen“, schreibt Kathleen Wermke in ihrem Buch „Babygesänge“, das jetzt im Molden Verlag erschienen ist. Auf mehr als 200 Seiten führt sie alle Interessierten in die geheimnisvolle Klangwelt der Babys ein.

Weltweit einzigartige Datenbank und Kompetenz 

Die Verhaltensbiologin Kathleen Wermke forschte und lehrte viele Jahre am Institut für Anthropologie der Charité in Berlin. Im Jahr 2003 holte sie Prof. Angelika Stellzig-Eisenhauer, Direktorin der Poliklinik für Kieferorthopädie, an das UKW, um dort in enger Kooperation mit der Kinderklinik, der Hals-Nasen-Ohren-Klinik und der Kinderneurochirurgie das interdisziplinäre Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen aufzubauen. Das sei nicht nur mutig, sondern auch sehr weitsichtig gewesen, meint Kathleen Wermke. 

Um Kinder mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalten oder Hörstörungen bei ihrer Sprachentwicklung zu unterstützen und überhaupt erst einmal einen frühen Hinweis auf eine mögliche Entwicklungsstörung zu erkennen, musste Kathleen Wermke jedoch zunächst wissen, wie sich die Sprache bei Kindern ohne Risikofaktoren entwickelt und welche anderen Faktoren die Sprache der Kinder beeinflussen. Sie brauchte Kontrollgruppen. So entstand im Laufe der Jahre die weltweit einzige Datenbank von Babylauten und die einzigartige Kompetenz, diese Lautäußerungen zu modellieren und auszuwerten. „In einem aktuellen Projekt unterstützen wir zum Beispiel eine US-amerikanische Studie, in der die Gehirnentwicklung von Kindern mit Spaltbildungen untersucht wird. Neben den MRT-Aufnahmen helfen unsere Analysen der Laute, die Hirnfunktion mit der von gesunden Kindern zu vergleichen“, sagt Kathleen Wermke.

Nicht nur die Muttersprache, Fehlbildungen oder Hörstörungen wirken sich auf die Lauteigenschaften von Neugeborenen aus, auch die Dauer der Schwangerschaft, die Art der Geburt und die Umgebung, in der das Kind aufwächst, müssen Kathleen Wermke zufolge berücksichtigt werden. Sie kann genau sagen, wann ein Kind idealerweise in wie vielen Bögen schreien sollte, wann welche Laute hinzukommen, welche Konsonantenfolge üblich ist. Aber auch wenn das alles nicht „der Norm“ entspreche, könne sich die Sprache entwickeln, wenn sie entsprechend gefördert werde, beruhigt Kathleen Wermke.

Babylaute sind Ausdruck einer Jahrmillionen alten Entwicklungsgeschichte des Menschen

Ihr Buch versteht sie keineswegs als Ratgeber zur Sprachförderung. Sie möchte die Erwachsenen, nicht nur Eltern, lediglich dazu animieren, den Babys einfach mal zuzuhören. Gerade in Deutschland habe das Schreien und Weinen von Babys oft keine Akzeptanz. Kathleen Wermke aber sagt: „Akzeptiert, dass diese Gefühlssprache der Weg zur Sprache ist! Babys verdienen Respekt und wertschätzendes Verständnis ihrer stimmlichen Botschaften.“ Der Babygesang im ersten Lebensjahr könne als das entscheidende fehlende Puzzlestück betrachtet werden, um den Übergang vom Tiergesang zur Lautsprache besser zu verstehen. Allerdings sei die Forschung noch weit davon entfernt, alle Geheimnisse dieser Klangwelt zu lüften. Daher hofft die 63-Jährige Wissenschaftlerin sehr, dass sich eine ähnlich leidenschaftliche Weiterführung dieser Forschung findet. Im Herbst wird sie ihr Wissen zunächst mit einer Förderung durch die Carl Friedrich von Siemens-Stiftung in einem Fachbuch festhalten. 

Buch: 
Prof. Dr. Kathleen Wermke. Babygesänge. Wie aus Weinen Sprache wird. 224 Seiten Hardcover, 13,5 x 21,5 cm. EUR 26,00. ISBN 978-3-222-15122-4 Molden Verlag
 

Cover des Buches Babygesänge
Im Buch „Babygesänge. Wie aus Weinen Sprache wird“ hat die Verhaltensbiologin Kathleen Wermke ihre Erkenntnisse aus mehreren Jahrzehnten Forschung unterhaltsam und fundiert zusammengefasst. @ Molden Verlag
Porträtbild Kathleen Wermke
Prof. Dr. Kathleen Wermke erforscht am Zentrum für vorsprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) das Weinen und die vorsprachlichen Lautäußerungen von Babys aus der ganzen Welt. © Patty Varasano / Kathleen Wermke

Neue Erkenntnisse zur Atherosklerose

TREM2, ein Rezeptor auf der Oberfläche von Makrophagen, könnte eine wichtige Rolle bei der Atherosklerose spielen

Eine Publikation in Nature Cardiovascular Research vom Uniklinikum Würzburg (UKW) und der Medizinischen Universität Wien zeigt sowohl Mechanismen, über die der Rezeptor TREM2 auf die Atherosklerose einwirkt, als auch einen möglichen therapeutischen Ansatz mit dem agonistischen TREM2-Antikörper 4D9.

 

Agonistischer TREM2-Antikörper mit atheroprotektiver Funktion
Die Behandlung mit dem agonistischen TREM2-Antikörper 4D9 führt zur Ausbildung kleinerer nekrotischer Kerne (rote Umrandungen) in atherosklerotischen Plaques der Aortenwurzel in Ldlr-/- Mäusen. © Nature Cardiovascular Research
Collage der Autorinnen und Autoren
Christoph Binder und Florentina Porsch aus Wien sowie Marie Piollet, Alma Zernecke-Madsen und Clément Cochain aus Würzburg (v.l.n.r.) haben den Einfluss von TREM2 auf die frühe und späte Atherosklerose sowie auf die Makrophagenfunktionen untersucht. © Collage, Alma Zernecke-Madsen und Christoph Binder

Würzburg/Wien. Atherosklerose ist eine chronische Erkrankung der Gefäßwand. Ablagerungen von Lipiden, insbesondere von Cholesterin, treiben die Entstehung von Plaques in der innersten Schicht von Arterien voran. Diese Ablagerungen können das Innere der Gefäße verengen und den Blutfluss behindern. Im schlimmsten Fall führen sie zu Blutgerinnseln, die je nach betroffenem Teil des Gefäßsystems Herzinfarkte oder Schlaganfälle verursachen können, welche weltweit für rund ein Drittel der Todesfälle verantwortlich sind. 

Wie Immunzellen die Entwicklung der Atherosklerose steuern

Seit Jahren erforschen Prof. Dr. Alma Zernecke-Madsen und Clément Cochain, PhD, vom Institut für Experimentelle Biomedizin II sowie Prof. Dr. Christoph Binder vom Klinischen Institut für Labormedizin der Medizinischen Universität Wien diese chronische Erkrankung der Gefäße. Ein Fokus ihrer Untersuchungen liegt auf dem Immunsystem, welches in allen Phasen der Atherosklerose eine wichtige Rolle spielt. So können Makrophagen, die auch als Fresszellen des Immunsystems bekannt sind, durch Aufnahme von Lipiden zu so genannten Schaumzellen werden, die sich besonders in atherosklerotischen Plaques ablagern. 

„Wir wussten bereits, dass diese Schaumzellen den Rezeptor TREM2 (Triggering Receptor Expressed on Myeloid cells 2) auf der Oberfläche tragen und dieser Rezeptor die Makrophagenfunktion in unterschiedlichen Pathologien wie Alzheimer oder Fettleibigkeit reguliert. Die Mechanismen, über die der Rezeptor auf die Atherosklerose einwirkt, waren jedoch noch nicht vollständig bekannt“, erläutert Alma Zernecke-Madsen, die das Institut für Experimentelle Biomedizin am UKW leitet. 

Einen wichtigen Baustein lieferten die Arbeitsgruppen aus Würzburg und Wien nun in der neuesten Publikation im renommierten Journal Nature Cardiovascular Research. „Wir haben den Einfluss von TREM2 auf die frühe und späte Atherosklerose sowie auf die Makrophagenfunktionen in zwei unterschiedlichen Laboren, in Wien und in Würzburg, unabhängig voneinander untersucht, was die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse noch unterstreicht“, betonen die drei Studienleiter. 

TREM2 reguliert Makrophagenfunktion 

Gemeinsam konnten die Forschenden zeigen, dass TREM2 für Makrophagen entscheidend an der Aufnahme von Lipiden und dem effizienten Abräumen von toten Zellen im Gewebe beteiligt ist, der so genannten Efferozytose. TREM2 fördert das Überleben von Schaumzellen. Auf diese Weise scheint TREM2 das Gleichgewicht zwischen dem Absterben von Schaumzellen und ihrer Beseitigung in atherosklerotischen Läsionen zu steuern. 

Schützende Funktion eines agonistischen TREM2-Antikörpers

Einen möglichen therapeutischen Ansatz lieferten Untersuchungen an so genannten LDLR-/- Mäusen. Da bei den Mäusen das LDLR-Gen ausgeschaltet wurde, haben sie eine erhöhte Konzentration von LDL-Cholesterin im Blut, was das Risiko für die Entwicklung von Atherosklerose erhöht. Diese Mäuse wurden mit einem von Kai Schlepckow und Christian Haass vom Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in München hergestellten agonistischen TREM2-Antikörper namens 4D9 behandelt, wodurch die Aktivität von TREM2 verstärkt wurde. Es hat sich gezeigt, dass durch die Stimulation von TREM2 die Bildung nekrotischer Kerne innerhalb der atherosklerotischen Plaques begrenzt wurde (siehe Abbildung). 
Diese protektive Funktion von TREM2 könnte Alma Zernecke-Madsen, Christoph Binder und Clément Cochain zufolge sehr wichtig sein, da die Ansammlung von abgestorbenen Plaquezellen maßgeblich die Stabilität der Ablagerungen und damit klinische Komplikationen der Atherosklerose beeinflusse. Das heißt: Wenn zu viele Zellen durch Nekrose absterben und die geschädigten Zellen nicht effizient entfernt werden, kommt es zu Entzündungen und nachfolgenden schädlichen Effekten. Durch die Gabe von 4D9 sterben jedoch weniger Zellen aufgrund von Nekrose ab. 

TREM2 könnte bei Atherosklerose diagnostisch und therapeutisch nutzbar sein

Darüber hinaus konnten die Forschenden Daten erheben, die TREM2 im menschlichen Serum bei der Atherosklerose nachweisen. „Das im Blut lösliche TREM2 („sTREM2“) korrelierte mit dem weiteren Wachstum von Plaques in der Halsschlagader der Patientinnen und Patienten“, schildert die Ko-Erstautorin Dr. Florentina Porsch. „Zusammen mit den Ergebnissen aus den präklinischen Tiermodellen könnte dies darauf hindeuten, dass TREM2 diagnostisch wie auch therapeutisch nutzbar sein könnte, was in den nächsten Jahren weiter erforscht werden muss“, fasst Ko-Erstautorin Marie Piollet zusammen. Aktuell untersucht Clément Cochain gemeinsam mit Alma Zernecke-Madsen und Antoine-Emmanuel Saliba vom Helmholtz-Institut für RNA-basierte Infektionsforschung (HIRI) mit ihren jeweiligen Arbeitsgruppen am Standort Würzburg die Funktion von TREM2 auch in anderen kardiovaskulären Erkrankungen wie dem Myokardinfarkt und bei Herzinsuffizienz. Die Untersuchungen finden unter anderem im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs SFB 1525 „Interaktion zwischen Herz und Immunsystem“ statt, dessen stellvertretende Sprecherin Alma Zernecke-Madsen ist. 

Publikation: 

*Marie Piollet, *Florentina Porsch, Giuseppe Rizzo, Frederieke Kapser, Dirk J.J. Schulz, Máté G. Kiss, Kai Schlepckow, Estrella Morenas-Rodriguez, Mustafa Orkun Sen, Julius Gropper, Sourish Reddy Bandi, Sarah Schäfer, Tobias Krammer, Alexander M. Leipold, Matthias Hoke, Mária Ozsvár-Kozma, Hannah Beneš, Martin Schillinger, Erich Minar, Melanie Roesch, Laura Göderle, Anastasiya Hladik, Sylvia Knapp, Marco Colonna, Rudolf Martini, Antoine-Emmanuel Saliba, Christian Haass, #Alma Zernecke, #Christoph J. Binder, #Clément Cochain. TREM2 protects from atherosclerosis by limiting necrotic core formation. Nature Cardiovascular Research. NCVR-2023-05-1780B, DOI: 10.1038/s44161-024-00429-9

* Ko-Erstautorinnen
# Studienleiter:in
 

Agonistischer TREM2-Antikörper mit atheroprotektiver Funktion
Die Behandlung mit dem agonistischen TREM2-Antikörper 4D9 führt zur Ausbildung kleinerer nekrotischer Kerne (rote Umrandungen) in atherosklerotischen Plaques der Aortenwurzel in Ldlr-/- Mäusen. © Nature Cardiovascular Research
Collage der Autorinnen und Autoren
Christoph Binder und Florentina Porsch aus Wien sowie Marie Piollet, Alma Zernecke-Madsen und Clément Cochain aus Würzburg (v.l.n.r.) haben den Einfluss von TREM2 auf die frühe und späte Atherosklerose sowie auf die Makrophagenfunktionen untersucht. © Collage, Alma Zernecke-Madsen und Christoph Binder

Pan-Neurofascin Autoimmune Nodopathie - lebensbedrohlich, aber reversibel

Dr. Luise Appeltshauser vom Universitätsklinikum Würzburg (UKW) erhält beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurowissenschaften (DGKN) in Frankfurt den Junior-Preis der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM). Ausgezeichnet wird ihre Forschung zu Pan-Neurofascin-Antikörpern, die sich gegen Proteine des Ranvierschen Schnürrings richten, die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln stören und innerhalb kurzer Zeit zu einem fulminanten Krankheitsverlauf führen.

Abbildung der Nervenfasern und in groß der Ranvierschen Schnürringe
Die mikroskopische Aufnahme zeigt eine Übersicht einer Spinalganglien-Kultur mit Nervenzellen (grün) und ihren Fortsätzen, den myelinisierten Axonen (cyan). In der Vergrößerung sieht man die Ranvier-Schnürringe mit Neurofascin-Protein (magenta). Links in der Vergrößerung sind reguläre Schnürringe dargestellt. In den beiden Vergrößerungen rechts sind Veränderungen dargestellt, nachdem die Nervenzellen den Patienten-Antikörpern ausgesetzt waren: Eine Zerstörung der Neurofascin-Struktur (Pfeil) mit Aufweitung der Schnürringe (oberes Bild) und eine Auftreibung und Zerstörung der Isolierschicht (unteres Bild). Maßstab der Übersichtsaufnahme: 100µm. © Luise Appeltshauser / UKW
Appeltshauser und Doppler im weißen Kittel im Labor der Neurologie
DGM-Preisträgerin Luise Appeltshauser (links) mit ihrer Arbeitsgruppenleiterin Kathrin Doppler im Labor der Neurologischen Klinik des Uniklinikums Würzburg. © UKW
4 Preisträger, davon Luise Appeltshauser auf dem Bildschirm
Die Preisträger und Preisträgerinnen der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V.: v.l.n.r.: Dr. Christopher Nelke, Dr. Maike Dohrn, Dr. Luise Appeltshauser, PD Dr. Alberto Catanese . Da Luise Appeltshauser gerade Mutter geworden ist, nahm sie virtuell am Kongress teil. @ DGM

Würzburg. Ihre Forschung kommt vielleicht nicht der breiten Masse zugute, aber: „Wenn ich dazu beitragen kann, dass eine Patientin oder ein Patient wieder laufen, atmen und leben kann, dann hat sich mein Einsatz gelohnt“, sagt Dr. Luise Appeltshauser, Assistenzärztin an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des UKW. Das fand auch die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM) und zeichnete sie für ihre publizierte Arbeit zum Thema „Pan-Neurofascin assoziierte autoimmune Nodopathie“ auf dem DGKN-Kongress für Klinische Neurowissenschaften am 8. März 2024 in Frankfurt am Main mit dem Junior-Preis aus. Der mit 2.500 Euro dotierte Preis fördert die Erforschung neuromuskulärer Erkrankungen.

Autoimmune Nodopathien: Wenn Antikörper die Nervenknoten angreifen

 Luise Appeltshauser hat sich auf Autoimmunerkrankungen des Nervensystems spezialisiert, insbesondere auf die Autoimmune Nodopathie, eine seltene und schwere neuromuskuläre Erkrankung, die erst seit zehn Jahren bekannt ist. Bei der Autoimmunen Nodopathie greifen Antikörper die Nervenknoten, die so genannten Ranvierschen Schnürringen, entlang der Nervenfasern an. Diese Ranvierschen Schnürringe sind eine Art Turboboost, die dafür sorgen, dass die Signale vom Gehirn entlang der Nervenfaser schnell und effizient zum Ziel gelangen. 

Proteine Neurofascin-186 und Neurofascin-155

An den Schnürringen befinden sich bestimmte Proteine, die von den Antikörpern attackiert werden. Nur wenige dieser Proteine sind bekannt. Luise Appeltshauser hat bereits während ihrer Doktorarbeit als Medizinstudentin in der Arbeitsgruppe von Privatdozentin Dr. Kathrin Doppler und leitender Oberärztin Prof. Dr. Claudia Sommer erstmals Antikörper gegen das Protein Caspr nachgewiesen. Im Fokus ihrer aktuellen Arbeit stehen nun die noch unerforschten Pan-Neurofascin-Antikörper. Diese Antikörper richten sich gegen die Proteine Neurofascin-186 und Neurofascin-155, die in der ultrakomplexen Struktur des Ranvierschen Schnürrings vorkommen. Luise Appeltshauser hat gemeinsam mit ihren Kolleginnen und den Doktorandinnen Helena Junghof und Julia Messinger Betroffene identifiziert, die klinischen Merkmale und das Therapieansprechen charakterisiert, den Pathomechanismus untersucht, also wie die Antikörper zur Schädigung führen, und neue Biomarker für die Diagnostik, den Verlauf und die Prognose ermittelt. 

Zerfetzte Ranviersche Schnürringe und fulminanter Krankheitsverlauf 

„Pan-Neurofascin-Antikörper können die Architektur der Schürringe regelrecht zerfetzen, was innerhalb weniger Wochen zu einem fulminanten Krankheitsverlauf führen kann“, erklärt die angehende Neurologin. „Häufig sind Männer im mittleren Alter betroffen. Die Betroffenen leiden unter Gefühlsstörungen und schweren Lähmungen der Gliedmaßen und Gesichtsnerven, können mitunter nicht mehr kommunizieren und müssen manchmal über Wochen und Monate künstlich beatmet werden. Komplikationen bei der Beatmung oder auch Herz-Rhythmusstörungen können dann sogar zum Tod führen.“ Das klinische Bild der Pan-Neurofascin-Autoimmun-Nodopathie unterscheide sich stark von den bereits bekannten Immun-Neuropathien. Die Diagnostik war bislang sehr schwierig, da keine Biomarker im Blut bekannt waren. Über den Antikörpernachweis lässt sich die Diagnose nun leicht stellen, ein weiterer Biomarker für den Verlauf kann der Gehalt an Neurofilament-Leichtketten im Serum sein. Eine frühzeitige Behandlung mit entsprechenden Medikamenten, die die Antikörper aus dem Blut eliminieren, sei aber immens wichtig, so Appeltshauser. Das Medikament Rituximab habe beispielsweise die Symptome erfolgreich reduziert und sogar zu Remissionen geführt. 

32 Patientinnen und Patienten mit Pan-Neurofascin-Autoimmun-Nodopathie

Luise Appeltshauser und ihre Kolleginnen erhalten inzwischen Serumproben aus ganz Deutschland, aber auch aus den USA und Australien, um die Antikörper zu bestimmen. In der Literatur sind bis dato nur 32 Patientinnen und Patienten mit Pan-Neurofascin-Autoimmun-Nodopathie beschrieben, inklusive der von den Würzburger Neurologinnen untersuchten Erkrankten. Sie vermuten aber, dass es mehr solcher Antikörper-assoziierter Immun-Neuropathien gibt. Ihre Ursachen sind noch unklar. Ein möglicher Auslöser für die fehlgeleiteten Antikörper könnten frühere Infektionen sein. Die Fragestellungen gehen jedenfalls nicht aus. 

Junior-Preis der DGM ist Ehre, Anerkennung, Rückenwind

„Der DGM-Junior-Preis gibt mir Rückenwind für zukünftige Forschungsprojekte“, freut sich Luise Appeltshauser. Er sei eine große Ehre und Anerkennung für die Zeit und das Herzblut, das sie in die Forschung gesteckt habe, und helfe bei weiteren Karriereschritten, zum Beispiel bei der Einwerbung von Drittmitteln und dem Aufbau einer eigenen Forschungsgruppe. Derzeit wird die Medizinerin vom Interdisziplinären Zentrum für Klinische Forschung (IZKF) der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg im Rahmen eines Habilitationsprogramms für Frauen gefördert. Zuvor war Luise Appeltshauser, die auch Sprecherin der Assistenzärztinnen und Assistenzärzte in der Neurologie am UKW ist, im Clinician Scientist-Programm des IZKF, das dem ärztlichen Nachwuchs neben der klinischen Ausbildung Freiräume für die Forschung gibt. Den Preis konnte sie aus gutem Grund nicht persönlich entgegennehmen: Vor vier Wochen hat Luise Appeltshauser ihr erstes Kind zur Welt gebracht. 

Über die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM): 
Die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) mit Sitz in Freiburg ist mit rund 10.000 Mitgliedern die größte und älteste deutsche Selbsthilfeorganisation für Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen. Seit über 50 Jahren fördert die DGM die Erforschung der mehr als 800 verschiedenen heute bekannten, teilweise sehr seltenen Muskelerkrankungen. Eine wichtige Aufgabe der DGM ist auch die Beratung und Unterstützung von Betroffenen und ihren Angehörigen in ihrem Alltag. Über Muskelerkrankungen zu informieren und die Interessen von muskelerkrankten Menschen gesundheitspolitisch zu vertreten, sind weitere zentrale Anliegen der Selbsthilfeorganisation.

Originalarbeiten

Appeltshauser L, Junghof H, Messinger J, et al. Anti-pan-neurofascin antibodies induce subclass-related complement activation and nodo-paranodal damage. Brain. 2023 May 2;146(5):1932-1949.

Appeltshauser L, Doppler K. Pan-Neurofascin autoimmune nodopathy - a life-threatening, but reversible neuropathy. Curr Opin Neurol. 2023 Oct 1;36(5):394-401.

Abbildung der Nervenfasern und in groß der Ranvierschen Schnürringe
Die mikroskopische Aufnahme zeigt eine Übersicht einer Spinalganglien-Kultur mit Nervenzellen (grün) und ihren Fortsätzen, den myelinisierten Axonen (cyan). In der Vergrößerung sieht man die Ranvier-Schnürringe mit Neurofascin-Protein (magenta). Links in der Vergrößerung sind reguläre Schnürringe dargestellt. In den beiden Vergrößerungen rechts sind Veränderungen dargestellt, nachdem die Nervenzellen den Patienten-Antikörpern ausgesetzt waren: Eine Zerstörung der Neurofascin-Struktur (Pfeil) mit Aufweitung der Schnürringe (oberes Bild) und eine Auftreibung und Zerstörung der Isolierschicht (unteres Bild). Maßstab der Übersichtsaufnahme: 100µm. © Luise Appeltshauser / UKW
Appeltshauser und Doppler im weißen Kittel im Labor der Neurologie
DGM-Preisträgerin Luise Appeltshauser (links) mit ihrer Arbeitsgruppenleiterin Kathrin Doppler im Labor der Neurologischen Klinik des Uniklinikums Würzburg. © UKW
4 Preisträger, davon Luise Appeltshauser auf dem Bildschirm
Die Preisträger und Preisträgerinnen der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V.: v.l.n.r.: Dr. Christopher Nelke, Dr. Maike Dohrn, Dr. Luise Appeltshauser, PD Dr. Alberto Catanese . Da Luise Appeltshauser gerade Mutter geworden ist, nahm sie virtuell am Kongress teil. @ DGM

Hatte schon der Neandertaler eine Fettleber?

Was uns die Archäogenetik über Lebersteatose bei alten und modernen Menschen sagt – Publikation im Fachjournal Gut

 

Ein gemeinsames Forschungsprojekt der Universitätskliniken Würzburg (UKW) und Homburg (UKS) und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig ermöglicht wichtige neue Einblicke in die evolutionären Grundlagen menschlicher Stoffwechselerkrankungen. Die relevanteste Genvariante, die für Fettlebererkrankungen verantwortlich ist, stammt aus der Zeit vor der Abspaltung vom Neandertaler. In alten Genomen dieser archaischen Menschen lag die Häufigkeit der Variante des PNPLA3-Gens bei 100 Prozent, möglicherweise aufgrund von Vorteilen bei der Kälteanpassung.

 

Grafik zur Evolution und Verbreitung der Fettleber-Genvariante
Vorhandensein der PNPLA3 rs738409-Genvariante bei modernen und archaischen Menschen, wobei die großen Menschenaffen die ursprüngliche Variante, den Wildtyp tragen. © UKW
Rekonstruktion von Neandertalern in einer Höhle
Rekonstruktion einer Neandertalergruppe. Was können uns archäogenetischen Erkenntnisse über die Lebersteatose bei alten und modernen Menschen sagen? © Johannes Krause, Neandertal group by Atelier Daynes, Paris, France. In: Museum of the Krapina Neanderthals, Krapina, Croatia. Project and realization of the Museum: Zeljko Kovacic and Jakov Radovcic.

Würzburg. Ein bisschen Fett ist ok. Wenn die Leber als zentrales Organ des Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsels aber mehr Fett speichern muss, als sie abbauen kann, spricht man von einer Fettleber. 30 Prozent der modernen Bevölkerung sind von dieser sogenannten Steatose betroffen. „Und mit der Zahl der Übergewichtigen steigt die Zahl unserer Patientinnen und Patienten“, warnt Prof. Dr. Andreas Geier, Leiter der Hepatologie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW). Jeder Fünfte mit einer Fettleber erkrankt an einer Fettleberhepatitis. Die Entzündung kann zu schweren Vernarbungen - Fibrose und Zirrhose - sowie zu Krebs führen. Doch nicht nur Umweltfaktoren wie Überernährung und Bewegungsmangel, sondern auch genetische Veranlagungen können eine Fettleber verursachen.

DNA von 10.000 alten und modernen Menschen analysiert

Eine bekannte und relevante Rolle bei der Entwicklung einer Fettlebererkrankung spielt die häufige Variante rs738409 des PNPLA3-Gens (siehe Infokasten). Während die Variante in afrikanischen Ländern eher selten auftritt - in Kenia liegt die Häufigkeit bei 8 Prozent - tragen in Mesoamerika rund 70 Prozent das Risiko-Allel, Spitzenreiter ist Peru mit 72 Prozent. Wie kommt es zu dieser auffallend heterogenen globalen Präsenz des Risiko-Allels? Wo liegt der Ursprung der PNPLA3-Variante rs738409? Diese Fragen beschäftigten den anthroplogisch interessierten Andreas Geier schon länger. Er kontaktierte Prof. Dr. Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig (MPI-EVA), der im Jahr 2022 für die Sequenzierung des Genoms der Neandertaler mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Pääbo stellte den Kontakt zur Abteilung Archäogenetik her, deren Direktor, Prof. Dr. Johannes Krause, der erste genetische Nachweis eines Denisova-Menschen gelang. Der Denisova-Mensch lebte vor rund 40.000 Jahren im sibirischen Altai-Gebirge und gilt neben Homo sapiens und Neandertaler als dritte Population der Gattung Homo. 

Gemeinsam mit Stephan Schiffels, Leiter der Arbeitsgruppe Populationsgenetik am MPI-EVA, Prof. Dr. Marcin Krawczyk vom UKS und seinem Doktoranden Jonas Trost analysierte Andreas Geier die DNA von mehr als 10.000 archaischen und modernen Menschen aus aller Welt. Darunter sind alle 21 verfügbaren Neandertaler-Genome und zwei Denisovaner-Genome sowie der weltweit einzige Hybrid, das Urzeit-Kind mit einer Neandertaler-Mutter und einem Denisovan-Vater. 

Primaten tragen Wildtyp, Frühmenschen 100 % Risiko-Allel

„Überraschenderweise trugen alle archaischen Menschen, die vor 40.000 bis 65.000 Jahren lebten, ausschließlich das Risiko-Allel, was auf eine Fixierung des Varianten-Allels bei ihren gemeinsamen Vorfahren hindeutet“, erklärt Andreas Geier und geht im menschlichen Stammbaum noch weiter zurück. „Bei der Analyse der Referenzgenomsequenz von Primaten wurde deutlich, dass die Menschenaffen, vom Orang-Utan über Gorilla bis zum Schimpansen und Bonobo, eine ursprüngliche, weniger riskante Genvariante tragen, einen sogenannten Wildtyp.“

Fettspeicherung sicherte einst das Überleben 

Daraus schließen die Wissenschaftler, dass die Hauptvariante des Fettleber-Gens PNPLA3 bereits vor der Aufspaltung des menschlichen Stammbaums vor mehr als 700.000 Jahren entstanden sein muss (siehe Abbildung 1). Aber warum? Schließlich hat diese Variante ungünstige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Eine Hypothese ist, dass diese und andere Genvarianten, die am Stoffwechsel beteiligt sind, in der Altsteinzeit, dem Paläolithikum, entwickelt wurden, um das Überleben zu sichern. „Insbesondere die Fähigkeit, Fett zu speichern, war wahrscheinlich während des größten Teils der Menschheitsgeschichte von Vorteil, während sie unter den heutigen Lebensbedingungen von Nachteil ist“, erklärt Andreas Geier und zieht zum Vergleich den Habitus von Gänsen heran, die sich vor Langstreckenflügen eine Fettleber anfressen, um genügend Energie an Bord zu haben.

Unterstützt PNPLA3 die Thermogenese? 

PNPLA3 wird auch in der Netzhaut exprimiert. Hier ist es am Stoffwechsel von Vitamin A beteiligt, das das Sehen in der Dämmerung beeinflusst – möglicherweise ein wichtiger Aspekt bei der Jagd. Außerdem kommt es im braunen Fettgewebe vor. „Unsere Beobachtung könnte den Vorteil der Fettspeicherung in kaltem Klima und insbesondere für Neandertaler unter eiszeitlichen Bedingungen unterstreichen“, spekuliert Geier. Für diese Hypothese spricht, dass die PNPLA3-Variante bei 89,3 Prozent der Jakuten-Bevölkerung in der kältesten Region im Nordosten Russlands vorherrscht. Weitere Untersuchungen zur Funktion von PNPLA3 bei der Wärmeproduktion außerhalb der Leber wären laut Geier spannend.

Kein signifikantes Signal für natürliche negative Selektion

Interessant ist auch die Frage nach der natürlichen Selektion. Die Allelfrequenzen rund um den Globus haben sich in den vergangenen 15.000 Jahren kaum verändert. Es gibt im archäogenetischen Datensatz keinen signifikanten Hinweis auf genetische Selektion. Spricht das nicht gegen die Hypothese der natürlichen Selektion im Paläolithikum? Stephan Schiffels rät zur Vorsicht: „Obwohl unsere genomweite Analyse keine signifikanten Signale für natürliche Selektion in den letzten 10.000 Jahren gefunden hat, besteht immer noch die Möglichkeit, dass Selektion in Zeiträumen aktiv war, die älter sind als die, die wir heute statistisch analysieren können“. Angesichts der begrenzten Lebensspanne archaischer Menschen sei es auch nicht überraschend, dass kein Signal in Richtung negativer Selektion gefunden werden konnte, da diese Variante ihre ungünstigen Auswirkungen wahrscheinlich erst im späteren Erwachsenenalter entfaltet und daher weniger wahrscheinlich die Fortpflanzungsdynamik beeinflusst.

Haben wir das Fettleber-Gen von den Neandertalern geerbt? 

Ob wir Menschen die PNPLA3-Variante rs738409 von den Neandertalern geerbt haben, ist laut Andreas Geier die naheliegendste Frage, die sich aus der Studie ergibt, und sie ist nicht ganz unbegründet. So wurde die Genvariante SLC16A11, die unter anderem zu Diabetes Mellitus führt, von den Neandertalern auf die modernen Menschen übertragen, aber nicht an alle. Der Homo neanderthalensis lebte bereits in Europa als der Homo sapiens aus Afrika kam und ein Genaustausch stattfand. In Afrika findet man SLC16A11 nicht, dafür aber Varianten von PNPLA3. Und das spricht gegen einen Gentransfer durch den Neandertaler. „Obwohl er dazu beigetragen haben könnte“, fügt Stephan Schiffels hinzu. „Tatsächlich zeigen unsere nachfolgenden Analysen, dass eines von 1.000 heutigen PNPLA3-Varianten-Allelen aus dem Neandertaler-Genom stammen könnte.“ 


Förderung und Publikation: 
Die mit finanzieller Unterstützung des European Research Council (ERC) im EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 (grant agreement number 851511) gewonnenen Erkenntnisse wurden im renommierten Fachjournal für Gastroenterologie und Hepatologie Gut publiziert: Andreas Geier, Jonas Trost, Ke Wang, Clemens Schmid, Marcin Krawczyk, Stephan Schiffels: PNPLA3 fatty liver risk allele was fixed in Neanderthals and segregates neutrally in humans. Gut. Published Online First: 08 March 2024. doi: 10.1136/gutjnl-2023-331594

Das PNPLA3-Gen ist für die Produktion eines Enzyms namens Patatin-like Phospholipase Domain-containing Protein 3 (PNPLA3) verantwortlich. Das Enzym ist an Prozessen beteiligt, die die Speicherung und Freisetzung von Fetten regulieren. Mutationen oder genetische Varianten im PNPLA3-Gen können die Aktivität dieses Enzyms beeinflussen und damit den Fettstoffwechsel in der Leber verändern. So ist ein bestimmter genetischer Polymorphismus mit dem Referenzmarker rs738409 im PNPLA3-Gen mit einem erhöhten Risiko für eine Fettlebererkrankung assoziiert. Diese Variationen können dazu führen, dass die Leber mehr Fett speichert und weniger effizient abbaut, was zu einer Fettansammlung in der Leber führt und das Risiko für Lebererkrankungen erhöht.
 

Grafik zur Evolution und Verbreitung der Fettleber-Genvariante
Vorhandensein der PNPLA3 rs738409-Genvariante bei modernen und archaischen Menschen, wobei die großen Menschenaffen die ursprüngliche Variante, den Wildtyp tragen. © UKW
Rekonstruktion von Neandertalern in einer Höhle
Rekonstruktion einer Neandertalergruppe. Was können uns archäogenetischen Erkenntnisse über die Lebersteatose bei alten und modernen Menschen sagen? © Johannes Krause, Neandertal group by Atelier Daynes, Paris, France. In: Museum of the Krapina Neanderthals, Krapina, Croatia. Project and realization of the Museum: Zeljko Kovacic and Jakov Radovcic.

„Zentrum für Seltene Erkrankungen Nordbayern“ an der Uniklinik Würzburg besteht seit zehn Jahren / „Leuchtturm der Versorgung und Forschung“

Zahl der bekannten Seltenen Erkrankungen steigt an / 600.000 Patienten im Freistaat betroffen

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen am UKW konnte am 29. Februar das zehnjährige Bestehen feiern. V.l..: Prof. Dr. Martin Fassnacht (UKW), Staatssekretärin Sabine Dittmar, Folker Quack, (Würzburger Arbeitskreis für Seltene Erkrankungen), Eva Luise Köhler, (Eva Luise und Horst Köhler Stiftung), Prof. Dr. Helge Hebestreit, Leiter des ZESE am UKW, Geske Wehr, Vorsitzende der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), Prof. Dr. Tilmann Schweitzer, stellvertretender Sprecher des ZESE, Thomas Zöller, Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung und Prof. Dr. Matthias Frosch, Dekan der Medizinischen Fakultät Würzburg. Foto: UKW / Stefan Dreising

Würzburg. Das Zentrum für Seltene Erkrankungen Nordbayern („ZESE“) am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) konnte heute (29. Februar) sein zehnjähriges Bestehen feiern. Der 29. Februar ist der offizielle Tag der Seltenen Erkrankungen. Eine Erkrankung, von der nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind, gilt als selten. Bislang sind weltweit etwa 8.000 verschiedene Seltene Erkrankungen bekannt – Tendenz steigend.

Bei der Jubiläumsveranstaltung am UKW gab es u.a. eine Podiumsdiskussion. Daran nahm auch Sabine Dittmar, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, teil. Dittmar betonte: „Diese Zentren innerhalb der Universitätsmedizin, wie das in Würzburg, sind eine sehr wichtige Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten, die oft lange nach einer passenden Behandlung suchen. Neben der Versorgung werden dort auch standortübergreifend Forschungsprojekte initiiert, um die Behandlung zu verbessern.“

Vernetzung als Vorteil für bessere Versorgung

Judith Gerlach, Bayerische Staatsministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention, dankte dem Würzburger Zentrum unter der Leitung von Prof. Dr. Helge Hebestreit per Videobotschaft auch für die Koordination des BASE-Netzes („Bayerischer Arbeitskreis für Seltene Erkrankungen“). Das BASE-Netz ist ein Zusammenschluss der Zentren für Seltene Erkrankungen der sechs bayerischen Unikliniken in Würzburg, Regensburg, Erlangen, München (TU und LMU) und Augsburg. In diesem Netzwerk werden bayernweit Kompetenzen gebündelt und datenschutzkonform eine Patientenakte zusammengestellt, die von behandelnden Fachärzten in den Zentren genutzt werden kann. „Gerade bei einer Seltenen Erkrankung ist es wichtig, dass alle Daten für die behandelnden Mediziner schnell verfügbar sind. Die Zusammenarbeit der bayerischen Zentren hat Vorbildcharakter. Davon profitieren die Patientinnen und Patienten und alle, die an der Behandlung beteiligt sind“, so die bayerische Gesundheitsministerin.

Thomas Zöller, MdL und Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, erklärte:„Der 29. Februar ist der ‚Tag der Seltenen Erkrankungen‘. Zusammen sind die ‚Seltenen‘ aber Viele. Allein in Bayern sind etwa 600.000 Menschen betroffen. Patientendaten können Forschungserfolge beschleunigen. Patientenbeteiligung ist daher unerlässlich!“ 

„Ein Ort, der Sicherheit und Orientierung gibt“

Zu Gast in Würzburg war auch Eva Luise Köhler, (Eva Luise und Horst Köhler Stiftung und Schirmherrin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, ACHSE). Sie dankte dem Team um Prof. Hebestreit für den Einsatz: „Mit beeindruckendem Engagement und der notwendigen Portion Idealismus haben Professor Hebestreit und sein Team hier in Würzburg einen Ort geschaffen, der weit mehr ist als nur eine medizinische Einrichtung. Ihr Zentrum ist ein Leuchtturm in der Versorgung geworden, der Menschen mit Seltenen Erkrankungen Sicherheit und Orientierung gibt und auch in schwierigen gesundheitlichen Fahrwassern verlässlich den Weg weist. Von Herzen danke ich für den besonderen Einsatz und wünsche weiterhin viel Kraft für diese wichtige Arbeit.“

Diese Leuchtturmfunktion des Würzburger ZESE bekräftigte auch Geske Wehr, Vorsitzende der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE): „Hier werden die mit der Patientenselbsthilfe erarbeiteten Qualitätskriterien für Zentren für Seltene Erkrankungen gelebt. Die gute, umfassende Betreuung in Zukunft sicherzustellen, ist eine Aufgabe, die viel Kraft abverlangt – auch von einzelnen engagierten Köpfen. Zehn Jahre sind ein Meilenstein. Danken möchten wir insbesondere Professor Dr. Helge Hebestreit: für sein bisheriges Engagement, der Energie, die er mit Herzblut und dabei stets nahbar für seine Patientinnen und Patienten, in seine Arbeit und dieses Zentrum einbringt. Wir freuen uns auf die weitere konstruktive Zusammenarbeit, bei der die Patientenseite Gehör für ihre Anliegen erfährt.“

Herausforderung: Kontinuierliche Versorgung während verschiedener Altersphasen

Prof. Dr. Helge Hebestreit, der Leiter des Würzburger Zentrums, nutzte die Jubiläumsveranstaltung auch, um auf die kommenden Aufgaben hinzuweisen. Die sieht er u.a. darin eine altersgruppenübergreifende Versorgung für die Patientinnen und Patienten sicher zu stellen. „Derzeit sind ca. 60 Prozent der Patienten im Erwachsenenalter. Allerdings gibt es große Probleme, wenn aus Kindern bzw. jugendlichen Patienten Erwachsene werden und sich dann alle Ansprechpartner ändern oder gar keine Erwachsenenversorgung existiert. In den universitären Zentren gibt es zwar eine große personelle Kontinuität in der Versorgung, aber wenn anstelle des langjährigen Teams in der Kinderklinik dann im Erwachsenalter ein neuer Arzt mit einem ganz anderen multiprofessionellen Team die Betreuung übernimmt, kann dies eine große Herausforderung sein. Gerade bei Seltenen Erkrankungen ist aber eine Kontinuität wichtig in der Behandlung“, so Hebestreit. Zudem steige, auch dank der vernetzten Forschung, die Anzahl der Seltenen Erkrankungen: Jährlich kommen etwa 200 neue Krankheitsbilder dazu.

Zu den bekannteren Seltenen Erkrankungen zählt etwa die Erkrankung Mukoviszidose, mit der jährlich rund 200 Kinder in Deutschland geboren werden. Viele Erkrankungen sind allerdings ultraselten, z.B. die Blutgerinnungsstörung „Faktor XIII-Mangel“: Sie tritt nur bei einem von rund zwei Millionen Menschen auf.

Hintergrund: „Tag der Seltenen Erkrankungen“

2024 ist wieder ein Schaltjahr und daher am 29. Februar ein ganz spezieller Tag, der „echte“ Tag der Seltenen Erkrankungen. Jährlich wird – weil es den 29. Februar nur selten gibt – immer am letzten Tag im Februar auf das Thema aufmerksam gemacht. In Deutschland gibt es rund vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung. Das Motto in diesem Jahr lautet: #Shareyourcolours bzw.  #Teilt eure Farben. Zum Aktionstag wird am Abend des 29. Februar sowohl das Gebäude des ZESE am UKW beleuchtet und aus Anlass des Jubiläums erstmals auch die Steinburg in Würzburg.

Hier geht gibt es einen aktuellen Info-Film zum Zentrum für Seltene Erkrankungen.

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen am UKW konnte am 29. Februar das zehnjährige Bestehen feiern. V.l..: Prof. Dr. Martin Fassnacht (UKW), Staatssekretärin Sabine Dittmar, Folker Quack, (Würzburger Arbeitskreis für Seltene Erkrankungen), Eva Luise Köhler, (Eva Luise und Horst Köhler Stiftung), Prof. Dr. Helge Hebestreit, Leiter des ZESE am UKW, Geske Wehr, Vorsitzende der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), Prof. Dr. Tilmann Schweitzer, stellvertretender Sprecher des ZESE, Thomas Zöller, Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung und Prof. Dr. Matthias Frosch, Dekan der Medizinischen Fakultät Würzburg. Foto: UKW / Stefan Dreising

Ausgezeichneter Einsatz der Dornröschen-Technologie

Best Abstract Award für CARAMBA-Studie

Privatdozentin Dr. Sophia Danhof vom Universitätsklinikum Würzburg (UKW) erhält beim größten europäischen CAR-T-Zell-Kongress in Valencia den Best Abstract Award für ihren Kongressbeitrag zur Caramba-Studie.

Preisträgerin Sophia Danhof mit Urkunde zwischen Michael Hudecek und Anna Sureda
Sophia Danhof (Mitte) vom Uniklinikum Würzburg erhielt Mitte Februar beim European CAR-T Cell Meeting in Valencia von den Kongress-Vorsitzenden Michael Hudecek und Anna Sureda den Best Abstract Award für ihren Beitrag zur Caramba-Studie.

Würzburg. „Die CARAMBA-Studie ist ein europäischer Teamerfolg unter Würzburger Leitung für die klinische Entwicklung akademischer Zellprodukte“, beschreibt Privatdozentin Dr. Sophia Danhof die CARAMBA-Studie in einem Satz. Im Rahmen der multizentrischen von der EU geförderten Studie hat der Lehrstuhl für Zelluläre Immuntherapie am UKW bewiesen, dass es einen selbst entwickelten CAR in die klinische Translation bringen kann, in diesem Fall waren es SLAMF7-CAR-T-Zellen bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem Multiplen Myelom. Für die Präsentation der CARAMBA-Studie erhielt die Internistin und Wissenschaftlerin des UKW nun beim EBMT-EHA 6th European CAR T-cell Meeting in Valencia den mit 10.000 Euro dotierten Best Abstract Award. 

Verbesserung der Erkrankungskontrolle beim fortgeschrittenen Multiplen Myelom

 Obwohl in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte bei der Behandlung des Multiplen Myeloms erzielt wurden, bleibt die Blutkrebserkrankung in vielen Fällen weiterhin unheilbar. Um im fortgeschrittenen Stadium eine Verbesserung der Erkrankungskontrolle zu erzielen, entwickelten Forschende der Universitätsmedizin Würzburg einen neuartigen Ansatz. Mit der sogenannten Sleeping Beauty-Technologie können die Immunzellen von Betroffenen dergestalt umprogrammiert werden, dass sie mittels Sensoren auf ihrer Oberfläche, den Chimären Antigen Rezeptoren (CARs), in die Lage versetzt werden, Tumorzellen zu erkennen und abzuräumen. 

Sleeping Beauty: Alte Eigenschaft eines DNA-Abschnitts neu zum Leben erweckt

Der Name Sleeping Beauty geht auf die Märchenfigur Dornröschen zurück. Bei der Sleeping Beauty-Technologie wurde die Eigenschaft eines so genannten Transposons, das vor mehr als zehn Millionen Jahren in Fischen vorkam, neu zum Leben erweckt. Ein Transposon ist ein DNA-Abschnitt, der seine Position im Erbgut verändern kann. Die Wissenschaft erzeugt es nun künstlich, um therapeutische Sequenzen in das Erbgut von Patientenzellen zu schleusen. 

In der CARAMBA Studie wurde SLAMF7-CAR-T-Zelltherapie nun erstmals bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem Multiplen Myelom, bei denen konventionelle Therapien dieser bösartigen Erkrankung der Plasmazellen im Knochenmark ausgeschöpft sind, klinisch getestet. Primäres Ziel war die Untersuchung von Machbarkeit und Sicherheit der neuartigen Behandlungsmethode. 

Erste Signale für Antitumorwirksamkeit

„An drei europäischen Standorten (Würzburg, Pamplona, Lille) konnten insgesamt neun Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung mit steigenden Zelldosen behandelt werden, wobei keine relevanten Sicherheitsbedenken auftraten und sich erste Signale für eine Antitumorwirksamkeit ergaben“, berichtet Sophia Danhof. In weiteren Folgeprojekten wird bereits daran gearbeitet, diese innovative Technologie auch für die Behandlung anderer Krebserkrankung nutzbar zu machen.

„Der Best Abstract Award für Sophia Danhof, aber auch die vielen anderen sehr gut bewerteten Kongressbeiträge aus Würzburg, zeigen, dass wir bei der CAR-T-Zell-Forschung absolut vorne mit dabei sind“, freut sich Prof. Dr. Michael Hudecek, Inhaber des Lehrstuhls für Zelluläre Immuntherapie am Uniklinikum Würzburg (UKW) und Vorsitz von Europas größtem CAR T-Zell-Meeting in Valencia. 

Weitere Informationen zur Tagung gibt es hier

Eine Zusammenfassung des EBMT-EHA 6th European CAR T-cell Meetings finden Sie hier

Hier geht es zur Webseite der CARAMBA-Studie.

Preisträgerin Sophia Danhof mit Urkunde zwischen Michael Hudecek und Anna Sureda
Sophia Danhof (Mitte) vom Uniklinikum Würzburg erhielt Mitte Februar beim European CAR-T Cell Meeting in Valencia von den Kongress-Vorsitzenden Michael Hudecek und Anna Sureda den Best Abstract Award für ihren Beitrag zur Caramba-Studie.

Landkarte gestörter Netzwerke im Gehirn

Studie in Nature Neurosciences zu spezifischen Nervenbündeln bei Parkinson, Dystonie, Tourette-Syndrom und Zwangsstörung

Ein internationales Studienteam mit Würzburger Beteiligung analysierte Daten von tiefen Hirnstimulationen bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen und lokalisierte die fehlerhaft funktionierenden Verbindungen im Gehirn, die sich wie Blockaden auf gesunde Gehirnfunktionen auswirken und zu Beeinträchtigungen im Bewegungsablauf sowie zu Störungen im Bereich der Gefühle und Verhaltensweisen führen.

 

farblich markierte Nervenbahnen von 534 Elektroden
Die Forschenden analysierten 534 Elektroden bei 261 Personen mit 4 unterschiedlichen Gehirn-Netzwerk-Störungen. Legt man alle durch die 534 Elektroden modulierten Verbindungen übereinander ist klar zu erkennen, dass es für jede der vier farblich markierten Störungen spezifische Projektionsfasern gibt. © Charité | Barbara Hollunder (doi: 10.1038/s41593-024-01570-1)
eingefärbte Nervenfasern bei verschiedenen Störungen
Betroffene Nervenbündel bei Parkinson-Syndrom (grün), Dystonie (gelb), Tourette-Syndrom (blau) und Zwangsstörung (rot). Vergrößert neben dem Hirnschnitt: die jeweils optimalen Zielgebiete einer tiefen Hirnstimulation im Zwischenhirn. © Charité | Barbara Hollunder
Elektrode unter einer Lupe, im Hintergrund ein Gehirn-Modell
Bild: Bei Morbus Parkinson und anderen Bewegungsstörungen ist die Tiefe Hirnstimulation inzwischen eine fest etablierte Methode. Über dünne, ins Gehirn implantierte Elektroden werden permanent elektrische Impulse abgegeben, welche die Symptome lindern. © Daniel Peter / UKW

Bewegungsstörungen wie Parkinson und Dystonie, welche durch Muskelkrämpfe gekennzeichnet ist, aber auch das Tourette-Syndrom sowie Zwangsstörungen gehen allesamt auf fehlerhafte Verbindungen von Gehirnregionen zurück. Eine inzwischen bewährte Behandlungsmöglichkeit dieser neurologischen und neuropsychologischen Erkrankungen ist die tiefe Hirnstimulation, im Volksmund auch als Hirnschrittmacher bekannt. Über dünne, ins Gehirn implantierte Elektroden werden permanent elektrische Impulse abgegeben, welche die Symptome lindern. Der genaue Wirkmechanismus, beziehungsweise welche Hirnschaltkreise welchen Störungen unterliegen, war bislang noch nicht genau bekannt. Im hochrangigen Fachjournal Nature Neuroscience hat jetzt ein internationales Team unter Federführung von Forschenden der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Bostoner Brigham and Women’s Hospital, mit Würzburger Beteiligung, eine einzigartige Landkarte gestörter Netzwerke im Gehirn veröffentlicht. 

534 Elektroden bei 261 Personen mit 4 unterschiedlichen Gehirn-Netzwerk-Störungen

Ein kleiner etwa ein Zentimeter langer Kern im Zwischenhirn war der Ausgangspunkt der Forschung. Denn der so genannte Nucleus Subthalamicus, in den die Elektroden implantiert werden, ist kurioserweise ein erfolgreicher Punkt für die tiefe Hirnstimulation sowohl bei Parkinson und Dystonie als auch seit neuestem bei Zwangserkrankungen und Tic-Störungen. Die Forschenden stellten sich die Frage: Wie kann das sein, dass sich über so einen kleinen Kern die Symptome derart unterschiedlicher Hirnfunktionsstörungen behandeln lassen? 

Sie analysierten die Daten von 534 Elektroden, die bei insgesamt 261 Patientinnen und Patienten aus der ganzen Welt in die rechte und linke Gehirnhälfte implantiert wurden. 127 von ihnen litten unter der Parkinson-Krankheit, 70 unter Dystonie, 50 hatten eine Zwangsstörung und 14 das Tourette-Syndrom. Einen großen Teil der Parkinson-Fälle lieferte die Neurologische Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg (UKW). Die von Prof. Dr. Jens Volkmann geleitete Klinik ist eines der führenden Zentren für tiefe Hirnstimulation in Deutschland, zudem ist er Vorstandsvorsitzender der 2019 gegründeten Parkinson Stiftung. 

Entwicklung der Software im SFB/TRR 295 ReTune

Um die exakte Lage der jeweiligen Elektroden zu erfassen, kam eine Software (LeadDBS) zum Einsatz, die im Rahmen des Transregio-Sonderforschungsbereichs (SFB) TRR 295 ReTune weiterentwickelt wurde. In dem von der Charité Berlin und dem UKW koordinierten SFB werden seit vier Jahren die Mechanismen und Funktion der dynamischen neuronalen Netzwerke untersucht, um sie durch invasive oder nicht-invasive Hirnstimulation gezielt zu beeinflussen. „Eines der wichtigsten Ergebnisse aus den letzten Jahren ist die Erkenntnis, dass eine Vielzahl von neurologischen und psychiatrischen Symptomen eine fehlerhafte Informationsverarbeitung zwischen entfernten Hirnregionen zugrunde liegt. Um diese Gehirn-Netzwerk-Störung optimal zu behandeln ist die Lage der Elektroden sehr wichtig, denn schon kleinste Abweichungen bei der Platzierung können die gewünschten Effekte ausbleiben lassen“, sagt PD Dr. Martin Reich, geschäftsführender Oberarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik am UKW. 

Lokalisation von Netzwerken, die für Behandlung entscheidend sind

Neben der genauen Lokalisierung ermöglichte die Software die Analyse des großen Kollektivs von Patientinnen und Patienten, um schlussendlich zu verstehen, welche Fasern über die tiefe Hirnstimulation moduliert werden. Legt man alle durch die 534 Elektroden modulierten Verbindungen übereinander ist klar zu erkennen, dass es für jede der vier farblich markierten Störungen spezifische Projektionsfasern gibt, die mit Regionen im Vorderhin verbunden sind, welche wiederum eine wichtige Rolle bei Bewegungsabläufen, Verhaltenssteuerung oder Informationsverarbeitung spielen. Zusammengenommen beschreiben diese Schaltkreise eine Sammlung von dysfunktionalen Schaltkreisen, die zu verschiedenen Hirnstörungen führen. Durch die Stimulation der Schaltkreise können Blockaden moduliert werden, um schlussendlich die Symptome der Erkrankung zu lindern. 

Landkarte der Symptom-Netzwerk-Verschaltungen des Gehirns

„In Anlehnung an die Begriffe des Konnektoms als Beschreibung der Gesamtheit aller Nervenverbindungen im Gehirn, oder des Genoms als Sammelbezeichnung für die gesamte Erbinformation, haben wir hierfür den Begriff des menschlichen ‚Dysfunktoms‘ geprägt. Eines Tages soll dieses die Gesamtheit aller gestörten Hirnschaltkreise beschreiben, die als Folge von Netzwerkerkrankungen auftreten können“, erklärt Barbara Hollunder, Stipendiatin des Einstein Center for Neurosciences an der Charité und Erstautorin der Studie.

„Die Studie ist die Speerspitze des SFB ReTune und zeigt darüber hinaus unsere hervorragende internationale Zusammenarbeit, vor allem mit dem Center for Brain Circuit Therapeutics am Brigham and Women's Hospital in Harvard“, sagt Dr. Martin Reich. Der Neurologe hat dort selbst ein Jahr lang gearbeitet und pflegt eine sehr erfolgreiche Verbindung mit Dr. Andreas Horn, dem Letztautor der Studie und Professor für Neurologie an der Harvard Medical School. Gemeinsam haben sie bereits fünf hochrangige Publikationen zu dem Thema Gehirn-Netzwerk-Erkrankungen und tiefe Hirnstimulation veröffentlichen können. 

KI errechnet individuelle Stimulationsparameter

Bemerkenswert sei, dass in der Studie die klinische Methode der tiefen Hirnstimulation genutzt wurde, um neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu verbessern, mit denen wiederum im transnationalen Ansatz die Versorgung der Patientinnen und Patienten zukünftig optimiert werden könne. Zusätzlich zur präzisen Platzierung beeinflusst die Feinabstimmung der Stromverteilung den Erfolg der Behandlung. Die elektrischen Impulse werden fortwährend über vier Kontakte auf der Elektrode ins umliegende Gewebe abgegeben und über Nervenbahnen an weitere entferntere Hirnareale geleitet. „Welcher Kontakt mit wie viel Milliampere bestückt wird, müssen wir Neurologen individuell testen“, erklärt Dr. Martin Reich und fügt ein „noch“ hinzu. „Wir haben einen Algorithmus basierend auf den Ergebnissen der Studie entwickelt, der bei jeder Patientin und jedem Patienten basierend auf individuellen Befunden und Bildern voraussagt, wie wir die elektrischen Impulse bei welcher Erkrankung optimal einstellen. Erste Tests in Würzburg bei der Behandlung der Parkinson-Symptome liefen sehr vielversprechend.“ 

Über die Studie
Forschende an zehn spezialisierten Zentren in sieben Ländern haben Daten für diese Studie bereitgestellt und zu den Ergebnissen beigetragen. Unterstützt wurden die Arbeiten unter anderem durch das Einstein Center for Neurosciences Berlin (ECN), das Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), die Benign Essential Blepharospasm Research Foundation, die privaten Förderer Larry und Kana Miao, die Agence nationale de la Recherche, das NIHR UCLH Biomedical Research Centre, die Scuola Superiore Sant'Anna, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, die Else Kröner-Fresenius-Stiftung, das Gesundheitsministerium Italiens, das Medical Research Council UK, die National Institutes of Health (NIH) und den New Venture Fund.

Hier geht es zur Pressemitteilung der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Abteilung für Bewegungsstörungen und Neuromodulation, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie).

Publikation:
Mapping dysfunctional circuits in the frontal cortex using deep brain stimulation.
Barbara Hollunder, Jill L. Ostrem, Ilkem Aysu Sahin, Nanditha Rajamani, Simón Oxenford, Konstantin Butenko, Clemens Neudorfer, Pablo Reinhardt, Patricia Zvarova, Mircea Polosan, Harith Akram, Matteo Vissani, Chencheng Zhang, Bomin Sun, Pavel Navratil, Martin M. Reich, Jens Volkmann, Fang-Cheng Yeh, Juan Carlos Baldermann, Till A. Dembek, Veerle Visser-Vandewalle, Eduardo Joaquim Lopes Alho, Paulo Roberto Franceschini, Pranav Nanda, Carsten Finke, Andrea A. Kühn, Darin D. Dougherty, R. Mark Richardson, Hagai Bergman, Mahlon R. DeLong, Alberto Mazzoni, Luigi M. Romito, Himanshu Tyagi, Ludvic Zrinzo, Eileen M. Joyce, Stephan Chabardes, Philip A. Starr, Ningfei Li & Andreas Horn. Nature Neuroscience. 22 February 2024. 
doi: 10.1038/s41593-024-01570-1

farblich markierte Nervenbahnen von 534 Elektroden
Die Forschenden analysierten 534 Elektroden bei 261 Personen mit 4 unterschiedlichen Gehirn-Netzwerk-Störungen. Legt man alle durch die 534 Elektroden modulierten Verbindungen übereinander ist klar zu erkennen, dass es für jede der vier farblich markierten Störungen spezifische Projektionsfasern gibt. © Charité | Barbara Hollunder (doi: 10.1038/s41593-024-01570-1)
eingefärbte Nervenfasern bei verschiedenen Störungen
Betroffene Nervenbündel bei Parkinson-Syndrom (grün), Dystonie (gelb), Tourette-Syndrom (blau) und Zwangsstörung (rot). Vergrößert neben dem Hirnschnitt: die jeweils optimalen Zielgebiete einer tiefen Hirnstimulation im Zwischenhirn. © Charité | Barbara Hollunder
Elektrode unter einer Lupe, im Hintergrund ein Gehirn-Modell
Bild: Bei Morbus Parkinson und anderen Bewegungsstörungen ist die Tiefe Hirnstimulation inzwischen eine fest etablierte Methode. Über dünne, ins Gehirn implantierte Elektroden werden permanent elektrische Impulse abgegeben, welche die Symptome lindern. © Daniel Peter / UKW