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Telemedizin gleicht Versorgungsnachteil aus

Telemedizin kann Leben retten – vor allem dort, wo der Weg zur kardiologischen Praxis weit ist. Eine neue Auswertung der vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) geförderten TIM-HF2-Studie zeigt dies eindrucksvoll: Herzinsuffizienz-Patientinnen und -Patienten, die weit von einer kardiologischen Versorgung entfernt leben, profitieren besonders stark von der telemedizinischen Überwachung. Ihre Sterblichkeit war bei der digitalen Fernüberwachung deutlich geringer. Die im Fachmagazin „Lancet Regional Health – Europe“ veröffentlichte Studie ist eine Kooperation der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Universitätskliniken in Würzburg und Hamburg und wurde beim Heart Failure Congress der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie vorgestellt. Sie liefert wichtige Hinweise, wie Telemedizin helfen kann, Versorgungsungleichheiten zwischen Stadt und Land auszugleichen.

 

Die drei Autoren der Studie stehen in Anzügen vor der Bühne des HFA Kongresses.
Stefan Störk, Fabian Kerwagen und Friedrich Köhler (v.l.n.r.) stellten die aktuelle Studie am 18. Mai 2025, beim Heart Failure Congress der European Society of Cardiology in Belgrad vor. © privat
Patientin, die daheim am Wohnzimmertisch sitzt, misst ihren Blutdruck
Spezielle mit Sensoren ausgestattete Messgeräte übertragen die Gesundheitswerte der Herzinsuffizienz-Patientinnen und -Patienten täglich drahtlos an das Telemedizinzentrum der Charité – Universitätsmedizin Berlin, sodass auf auffällige Messwerte sofort reagiert und die Therapie frühzeitig angepasst werden kann. © DZHC
Karte aus der Publikation mit Vergrößerung der Region rund um Würzburg
Verteilung der Kardiologen und Patienten in Deutschland und exemplarisch für Würzburg. Die Karte veranschaulicht die Verteilung von Kardiologen und Patienten über Deutschland, einschließlich der Anfahrtswege für jeden Patienten. Das Beispiel Würzburg zeigt, dass Patienten aus verschiedenen Bezirken (Bezirksgrenzen innerhalb Unterfrankens sind mit dünnen weißen Linien dargestellt) und aus einem anderen Bundesland (Landesgrenzen sind mit dicken weißen Linien dargestellt) in Würzburg behandelt wurden. RPM = remote patient management, UC = Usual Care. © Kerwagen et al, The Lancet Regional Health – Europa, 2025, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321
Drei Grafiken aus der Publikation
Primäre und wichtige sekundäre Endpunkte nach der Entfernung zwischen dem Wohnort des Patienten und dem Standort des Kardiologen. RPM, Fernbehandlung des Patienten; UC, übliche Behandlung. Die schwarzen Linien stellen das Ratenverhältnis (Tafel a: primärer Endpunkt) und die Hazard Ratios (Tafeln b und c: wichtige sekundäre Endpunkte) dar. Die entsprechenden 95 %-Konfidenzintervalle sind durch blau schattierte Bereiche gekennzeichnet. Die grün gepunktete Linie zeigt die Gleichheitslinie an. Wie dargestellt, hängen die Behandlungseffekte von der individuellen Entfernung in Kilometern (km) zwischen dem Wohnort des Patienten und dem Kardiologen ab. Zur Veranschaulichung wurde die Entfernung bei 100 km abgeschnitten, während die geschätzten Kurven auf dem gesamten beobachteten Bereich basieren. © Kerwagen et al, The Lancet Regional Health – Europa, 2025, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321

Berlin / Hamburg / Würzburg. Bereits im Jahr 2018 zeigte die im Fachmagazin The Lancet veröffentlichte Studie TIM-HF2 (Telemedical Interventional Management in Heart Failure II), dass durch telemedizinische Unterstützung das Leben von Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz in Deutschland verlängert und die Zahl der Wiedereinweisungen in Krankenhäuser reduziert werden kann. Die Ergebnisse der kontrollierten multizentrischen Versorgungsforschungsstudie unter der Leitung von Prof. Dr. Friedrich Köhler vom Deutschen Herzzentrum der Charité (DHZC) haben maßgeblich dazu beigetragen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Jahr 2020 die telemedizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Herzschwäche in die ambulante Versorgung der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen hat.

Telemonitoring wirkt unabhängig von der Pumpfunktion

Dass nicht nur Patientinnen und Patienten mit deutlich eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion (LVEF) von diesem gesetzlichen Versorgungsanspruch einen Vorteil haben, zeigt eine sogenannte prästratifizierte Sekundärauswertung der Studie, die das DHZC gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz Würzburg (DZHI) und dem Institut für Biometrie und Epidemiologie des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (IMBE) im Juni 2023 im European Journal of Heart Failure veröffentlichte. Denn auch Patientinnen und Patienten mit erhaltener Pumpfunktion (kurz „HFpEF“ für Heart Failure with preserved Ejection Fraction) oder nur leicht reduzierter Pumpfunktion (kurz „HFrEF“ für Heart Failure with reduced Ejection Fraction) profitierten von der Rund-um-die-Uhr-Fernüberwachung. „Unsere Studienergebnisse haben unter anderem dazu geführt, dass die Bundesärztekammer und der Verband der Privaten Krankenversicherung eine Abrechnungsempfehlung für den Einsatz von Telemonitoring vereinbart haben, und zwar auch bei diastolischer Herzinsuffizienz“, berichtet Friedrich Köhler.

Doch wie funktioniert eine telemedizinische Betreuung? Im Rahmen der TIM-HF2-Studie übertrugen zum Beispiel spezielle mit Sensoren ausgestattete Messgeräte täglich Gesundheitswerte wie EKG, Sauerstoffsättigung, Blutdruck und Körpergewicht von Herzinsuffizienz-Patientinnen und -Patienten aus ganz Deutschland drahtlos an das Telemedizinische Zentrum (TMZ) am DHZC. Das TMZ-Team, bestehend aus Ärztinnen und Ärzten sowie spezialisierten Herzinsuffizienz-Pflegekräften, reagierte sofort auf auffällige Messwerte und konnte die Therapie frühzeitig anpassen.

Wer profitiert am meisten von der Telemedizin? Patienten auf dem Land, in der Stadt, oder die mit einem langen Weg zum Kardiologen?

In einer weiteren Auswertung der TIM-HF2 Studiendaten wurden nun die Auswirkungen der Telemedizin unter drei neuen Gesichtspunkten untersucht: Wo praktiziert der Kardiologe? Wo wohnt der Patient? Und wie lang ist der Weg vom Wohnort zur kardiologischen Praxis? Also, wer profitiert am meisten von der Telemedizin – Patienten auf dem Land, in der Stadt, oder mit einer langen Autofahrt zum Kardiologen? Als Vergleich diente die Gruppe, die ohne telemedizinische Betreuung behandelt wurde.

„Die gute Nachricht ist zunächst, dass es bei der kardiologischen Behandlung keinen signifikanten Unterschied macht, ob die Patientinnen und Patienten auf dem Land oder in der Stadt leben. Die Behandlungsqualität ist in Praxen und Kliniken auf dem Land genauso gut wie in Großstädten“, erklärt Erstautor Dr. Fabian Kerwagen, Clinician Scientist am Uniklinikum Würzburg (UKW). Als Großstadt wurde eine Stadt mit mehr als 200.000 Einwohnern oder einer Universitätsklinik definiert. Von größerer Relevanz war jedoch die Wegstrecke. „Wir sehen, dass die individuelle Entfernung zwischen Wohnort und Praxis einen deutlichen Unterschied macht: Je weiter die Patientinnen und Patienten von ihrer kardiologischen Praxis entfernt wohnten, desto mehr profitierten sie von der telemedizinischen Betreuung“, so Kerwagen. Um die Entfernung zu berechnen wurde für sämtliche 1538 Studienteilnehmenden die schnellste Route mit dem Auto ermittelt.

Je weiter entfernt die Menschen wohnten, desto geringer war die Mortalität bei telemedizinischer Betreuung

Es ist bekannt, dass es in ländlichen Regionen die Häufigkeit kardiovaskulärer Erkrankungen, aber auch die kardiovaskulär bedingte Sterblichkeit höher ist. In Städten liegt die durchschnittliche Eintreffzeit des Rettungsdienstes oft unter zehn Minuten – auf dem Land kann sie 20 Minuten und mehr betragen. Das klare Ergebnis und die signifikanten Auswirkungen der Telemedizin auf die Gesundheit dieser Gruppe mit langen Anfahrtswegen hat das Studienteam dennoch überrascht. So zeigt ein Diagramm der Studie, die jetzt im Fachmagazin „Lancet Regional Health–Europe“ veröffentlicht wurde: Je weiter entfernt die Menschen wohnten, desto größer war der durch die telemedizinische Betreuung vermittelte günstige Effekt auf Sterblichkeit und Hospitalisierungshäufigkeit.

Telemedizin kann medizinische Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sicherstellen

Stefan Störk, Leiter der Herzinsuffizienz-Ambulanz und Klinischen Forschung am DZHI, freut sich, dass sie mit dieser Studie erstmals den positiven Effekt der Telemedizin auf ihre weiter entfernt lebenden Patientinnen und Patienten zeigen konnten: „Telemedizin kann durchaus eine Brücke bauen und dazu beitragen, den Versorgungsnachteil von Menschen, die weit entfernt von einer kardiologischen Praxis wohnen, auszugleichen.“ Der Kardiologe und sein Team setzen sich schon lange für den digitalen Versorgungsansatz ein. Schließlich erfordert das komplexe Krankheitsbild der Herzinsuffizienz eine umfassende Betreuung. Entsprechend groß war die Resonanz, als Stefan Störk als korrespondierender Autor der Studie die Ergebnisse der Sekundärauswertung am 18. Mai 2025 in der Late Breaking Science Session auf dem diesjährigen Heart Failure Congress der European Society of Cardiology (ESC) in Belgrad (Serbien) vorstellte.

Durch Data-Sharing konnten 18 Paper nach der Primärpublikation erstellt werden

Friedrich Köhler ist mit gutem Grund stolz auf seine TIM-HF2-Studie, die einst vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) unterstützt wurde. „Öffentlich geförderte Projekte verlangen Data-Sharing”, so Köhler. „Indem wir unsere Daten geteilt haben, konnten nach der primären Publikation in verschiedenen Kooperationen bisher 18 Paper veröffentlicht werden, deren Ergebnisse die Gesundheitsversorgung und die Lebensqualität vieler Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz maßgeblich beeinflussen.“


Publikation:
Fabian Kerwagen, Stefan Störk, Kerstin Koehler, Eik Vettorazzi, Maximilian Bauser, Jasmin Zernikow, Gina Barzen, Meike Hiddemann, Jan Gröschel, Michael Gross, Christoph Melzer, Karl Stangl, Gerhard Hindricks, Friedrich Koehler, Sebastian Winkler, Sebastian Spethmann. Rurality, travel distance, and effectiveness of remote patient management in patients with heart failure in the TIM-HF2 trial in Germany: a pre-specified analysis of an open-label, randomised controlled trial. The Lancet Regional Health - Europe, 2025, 101321, ISSN 2666-7762, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321

Text: Wissenschaftskommunikation UKW / KL
 

Die drei Autoren der Studie stehen in Anzügen vor der Bühne des HFA Kongresses.
Stefan Störk, Fabian Kerwagen und Friedrich Köhler (v.l.n.r.) stellten die aktuelle Studie am 18. Mai 2025, beim Heart Failure Congress der European Society of Cardiology in Belgrad vor. © privat
Patientin, die daheim am Wohnzimmertisch sitzt, misst ihren Blutdruck
Spezielle mit Sensoren ausgestattete Messgeräte übertragen die Gesundheitswerte der Herzinsuffizienz-Patientinnen und -Patienten täglich drahtlos an das Telemedizinzentrum der Charité – Universitätsmedizin Berlin, sodass auf auffällige Messwerte sofort reagiert und die Therapie frühzeitig angepasst werden kann. © DZHC
Karte aus der Publikation mit Vergrößerung der Region rund um Würzburg
Verteilung der Kardiologen und Patienten in Deutschland und exemplarisch für Würzburg. Die Karte veranschaulicht die Verteilung von Kardiologen und Patienten über Deutschland, einschließlich der Anfahrtswege für jeden Patienten. Das Beispiel Würzburg zeigt, dass Patienten aus verschiedenen Bezirken (Bezirksgrenzen innerhalb Unterfrankens sind mit dünnen weißen Linien dargestellt) und aus einem anderen Bundesland (Landesgrenzen sind mit dicken weißen Linien dargestellt) in Würzburg behandelt wurden. RPM = remote patient management, UC = Usual Care. © Kerwagen et al, The Lancet Regional Health – Europa, 2025, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321
Drei Grafiken aus der Publikation
Primäre und wichtige sekundäre Endpunkte nach der Entfernung zwischen dem Wohnort des Patienten und dem Standort des Kardiologen. RPM, Fernbehandlung des Patienten; UC, übliche Behandlung. Die schwarzen Linien stellen das Ratenverhältnis (Tafel a: primärer Endpunkt) und die Hazard Ratios (Tafeln b und c: wichtige sekundäre Endpunkte) dar. Die entsprechenden 95 %-Konfidenzintervalle sind durch blau schattierte Bereiche gekennzeichnet. Die grün gepunktete Linie zeigt die Gleichheitslinie an. Wie dargestellt, hängen die Behandlungseffekte von der individuellen Entfernung in Kilometern (km) zwischen dem Wohnort des Patienten und dem Kardiologen ab. Zur Veranschaulichung wurde die Entfernung bei 100 km abgeschnitten, während die geschätzten Kurven auf dem gesamten beobachteten Bereich basieren. © Kerwagen et al, The Lancet Regional Health – Europa, 2025, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321

Wie und warum entstehen psychische Störungen?

Auf dem 4. Gemeinsamen Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP) und der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) erhielt Prof. Dr. Lorenz Deserno am 8. Mai 2025 in Berlin den mit 5.000 Euro dotierten Nachwuchsforschungspreis der DGBP und der Stiftung Nervenheilkunde. Deserno, der seit 2020 die W2-Professur für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) innehat, teilt sich den Preis mit Dr. Frederike Stein von der Philipps-Universität Marburg.

Porträtfoto von Lorenz Deserno, der ein dunkles Jacket und blaues Jeanshemd trägt.
Lorenz Deserno, Professor für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) erhielt den Nachwuchsforschungspreis 2025 der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie und der Stiftung Nervenheilkunde. © Daniel Peter / UKW
Vertreter der DGBP und Preisträger stehen auf der Bühne und lächeln für die Fotografen
Prof. Dr. Tilo Kircher (links), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP), und Prof. Dr. Jürgen Deckert (rechs), Schatzmeister der DGBP, gratulieren Prof. Dr. Lorenz Deserno zum Nachwuchsforschungspreis 2025. © Jens Wiltfang / Tilo Kircher

Würzburg. Bereits gegen Ende seines Medizinstudiums entwickelte Lorenz Deserno ein besonderes Interesse an der Hirnforschung bei psychischen Erkrankungen. Spätestens seit seiner Promotion über kognitive Defizite bei Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie ist seine Forschung fest in der biologischen Psychiatrie verankert. Dieses Teilgebiet der Psychiatrie untersucht, wie biologische Veränderungen mit psychischen Erkrankungen zusammenhängen. Prof. Dr. Lorenz Deserno geht zum Beispiel am Zentrum für Psychische Gesundheit (ZEP) des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) der Frage nach, wie sich bestimmte Denk- und Handlungsweisen in den Aktivierungsmustern des Gehirns widerspiegeln und verfolgt dabei einen transdiagnostischen entwicklungspsychiatrischen Ansatz mit dem er unterschiedliche Erkrankungsbilder wie ADHS, Schizophrenie, Alkoholabhängigkeit, Essstörungen sowie zuletzt auch Angststörungen und Depression untersucht und vergleicht. Dazu nutzt er funktionelle Bildgebung und Methoden der sogenannten Computational Psychiatry.

Erforschung menschlichen Verhaltens und kognitiver Prozesse mit Hilfe der Computational Psychiatry

Computational Psychiatry verbindet Erkenntnisse aus der Psychiatrie, den Neurowissenschaften, der Informatik, der Mathematik und den Kognitionswissenschaften, um die komplexen Mechanismen des Gehirns und des Verhaltens bei psychischen Erkrankungen zu beschreiben. Während dieser Ansatz in den letzten Jahren viel Beachtung und Anerkennung gefunden hat, gibt es nur wenige Arbeitsgruppen, die diesen Forschungsansatz in der Entwicklungspsychiatrie anwenden.

Desernos Arbeiten haben beispielsweise zu einem neuen Verständnis des populären Neurotransmitters Dopamin beigetragen. Dieser ist nicht nur an der Verarbeitung von Belohnungen beteiligt, sondern steuert auch die gezielte Planung von Handlungen, um Belohnungen zu erhalten. Weiterhin konnte er mit seinem Team durch spezifische Modellierungen herausfinden, dass inkonsistente Entscheidungen keineswegs als Messfehler anzusehen sind, sondern dass eine altersabhängige Zunahme spezifischer und komplexer kognitiver Prozesse mit einer Abnahme dieser „verrauschten“ inkonsistenten Entscheidungen einhergeht und sogar davon abhängt. Darüber hinaus konzentriert sich sein Team auf die Anwendung in Studiendesigns mit potenzieller klinischer Relevanz, zum Beispiel zur Vorhersage der Wirksamkeit von Psychopharmaka bei ADHS in einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie.

Nachwuchsforschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP) und der Stiftung Nervenheilkunde

Auf der 4. gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP) und der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) wurden seine bisherigen Forschungsleistungen nun mit dem Nachwuchsforschungspreis der DGBP und der Stiftung Nervenheilkunde ausgezeichnet. Deserno teilt sich den mit 5.000 Euro dotierten Preis mit Dr. Frederike Stein von der Philipps-Universität Marburg.

Die Auszeichnung ist für ihn in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: „Sie würdigt meinen bisherigen Werdegang, in dem ich durch die Kombination von wissenschaftlicher und klinischer Tätigkeit meine eigenständige Arbeitsgruppe aufgebaut habe, und sie stärkt mich persönlich in einer entscheidenden Phase meiner Karriere und Etablierung innerhalb der deutschsprachigen biologisch-psychiatrischen Forschungsgemeinschaft. Aus meiner Sicht ist die entwicklungspsychiatrische und neurowissenschaftliche Forschungsperspektive mit Methoden der ‚Computational Psychiatry‘ für die Beantwortung klinisch relevanter Forschungsfragen in der biologisch-psychiatrischen Forschung extrem aufschlussreich“.

Psychische Störungen besser verstehen, diagnostizieren und behandeln

Mit biologisch realistischen Methoden des „Computational Imaging“ und durch mobile Messungen im Alltag will Lorenz Deserno der Entstehung psychiatrischer Symptome weiter auf den Grund gehen. Wie und warum entstehen bestimmte Störungen auf der Ebene von Hirnprozessen, Informationsverarbeitung und Lernen? Welche Faktoren erhöhen das Risiko für psychische Störungen oder schützen davor? Seine Erkenntnisse sollen helfen, bestehende Behandlungen zu verbessern und neue, auch digitale Therapien zu entwickeln.

Werdegang von Lorenz Deserno
Lorenz Deserno wurde 1985 in Frankfurt am Main geboren und studierte von 2005 bis 2012 Humanmedizin an der Charité - Universitätsmedizin Berlin. In seiner preisgekrönten Doktorarbeit untersuchte er kognitive Defizite bei Schizophrenie mittels funktioneller Bildgebung. Nach seiner Approbation als Arzt arbeitete er zunächst wissenschaftlich an der Charite Universitätsmedizin Berlin und dann am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Dort beschäftigte er sich zunehmend mit impulsivem Verhalten, wie es zum Beispiel bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), bei Substanzmissbrauch und bei Essanfällen mit Kontrollverlust auftritt. Es zeigte sich, dass viele dieser Verhaltensweisen ihre Wurzeln in der Kindheit der Betroffenen haben, was Lorenz Deserno in die Kinder- und Jugendpsychiatrie führte. Seine klinische Weiterbildung in Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie begann er 2016 in Leipzig, die er später am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) abschloss. Von 2018 bis 2020 vertiefte er am University College London am Max Planck UCL Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research seine methodischen Kenntnisse auf dem noch jungen interdisziplinären Gebiet der ‚Computational Psychiatry‘. Im Jahr 2020 nahm Deserno einen Ruf nach Würzburg auf die neu geschaffene W2-Professur für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKW an. Deserno hat zwei Kinder (*2019, *2023) für die er jeweils sechs Monate Elternzeit im ersten Lebensjahr nahm.

Text: KL / Wissenschaftskommunikation

Porträtfoto von Lorenz Deserno, der ein dunkles Jacket und blaues Jeanshemd trägt.
Lorenz Deserno, Professor für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) erhielt den Nachwuchsforschungspreis 2025 der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie und der Stiftung Nervenheilkunde. © Daniel Peter / UKW
Vertreter der DGBP und Preisträger stehen auf der Bühne und lächeln für die Fotografen
Prof. Dr. Tilo Kircher (links), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP), und Prof. Dr. Jürgen Deckert (rechs), Schatzmeister der DGBP, gratulieren Prof. Dr. Lorenz Deserno zum Nachwuchsforschungspreis 2025. © Jens Wiltfang / Tilo Kircher

Virtuelle Begleiter gegen reale Ängste

ANWESENHEIT VIRTUELLER CHARAKTERE MIT BESTIMMTEN EIGENSCHAFTEN KANN KÖRPERLICHE ANGSTREAKTIONEN ABMINDERN

Eine aktuelle Kooperationsstudie der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und dem Lehrstuhl für Mensch-Computer Interaktion der Universität Würzburg zeigt, dass virtuelle Charaktere Angstreaktionen deutlich abmildern können, vorausgesetzt sie haben eine soziale Relevanz. Neben einer gleichgeschlechtlichen virtuellen Figur entfaltete auch eine einfache Holzpuppe eine beruhigende Wirkung, wenn sie als empathischer Partner wahrgenommen wurde. Die im Fachjournal Computers in Human Behavior veröffentlichten Ergebnisse eröffnen neue Perspektiven für den gezielten Einsatz virtueller Charaktere in digitalen Gesundheitsanwendungen.

 

die Collabe zeigt oben zwei Bilder vom virtuellen Labor, links Vogelperspektive, rechts zwei leere Stühle, unten sind vier Bilder von einzelnen Charakteren, die mit dem Rücken zum Betrachter gewandt sind.
Die Verkörperungen der im Experiment verwendeten virtuellen Figur. Oben Ansichten vom leeren Raum, unten v.l.n.r.: Wolke, Holzfigur, weiblich, männlich. Im ersten Versuch wurden die Probandinnen mit einem neutralen Klang konfrontiert, im zweiten Versuch mit einem aversiven Geräusch. © Weiß, Krop et al., Computers in Human Behavior, 2025.
Zwei Bildausschnitte aus dem VR-Labor nebeneinander, VR-Frau und Holzfigur Woody sitzen mit dem Rücken dem Betrachter zugewandt in der schallisolierten VR-Kabine.
Als die Holzfigur Woody eine soziale Bedeutung erhielt, hatte sie einen ähnlich signifikanten Social Buffering Effekt auf die Probandinnen wie die virtuelle Frau und wirkte beruhigend. © Weiß, Krop et al., Computers in Human Behavior, 2025.

Würzburg. Du bist nicht allein. Ob bei Menschen oder Tieren - die Nähe zu Artgenossen kann in Angstsituationen beruhigend wirken. Dieser als Social Buffering bezeichnete Mechanismus wurde ursprünglich in der Tierforschung entdeckt. Selbst Zebrafische zeigen in Gegenwart von Artgenossen weniger Angstverhalten (Faustino et al., Scientific Reports, 2017). Dabei spielt die Größe des sichtbaren Schwarms keine Rolle. Schon der Sichtkontakt zu einzelnen Artgenossen in benachbarten Aquarien können bedrohliche Reize, in diesem Fall ausgelöst durch eine Alarmsubstanz im Wasser, abschwächen. Prof. Dr. Grit Hein, Professorin für Translationale Neurowissenschaften am Uniklinikum Würzburg (UKW), ließ sich von diesem einfachen Versuchsaufbau mit beeindruckendem Ergebnis inspirieren und untersuchte mit ihrem Team, ob der Effekt der bloßen sozialen Anwesenheit auch beim Menschen messbar ist, zunächst in der realen Welt und in einer aktuellen Studie in der virtuellen Welt. 

„Soziale Interaktionen finden heute oft virtuell statt, aber die Auswirkungen von Social Buffering in der virtuellen Welt sind noch wenig bekannt“, erklärt Grit Hein. 

Anwesenheit eines Artgenossen kann autonome Reaktionen auf aversive Reize abschwächen

Zunächst zum Studiensetting in der realen Welt, welches in Vorgängerstudien (Qi Y et al., Proc Biol Sci, 2020 und Qi Y et al., Translational Psychiatry, 2021) verwendet wurde: Die Studienteilnehmerinnen befanden sich in einer schallisolierten Kabine und hörten angsteinflößende Schreie, sowohl allein als auch in Anwesenheit einer realen Person. Neben den emotionalen Bewertungen wurde auch der so genannte Hautleitwert untersucht und damit das autonome Angstmaß bestimmt, also die Aktivität des peripheren Nervensystems - übrigens ein Wert, der nicht beeinflusst werden kann und deshalb auch oft in der Lügendetektion eingesetzt wird. Wenn wir aversiven Reizen ausgesetzt sind, also Reizen, die unangenehm, schmerzhaft, angst- oder stressauslösend sind, werden unsere Schweißdrüsen aktiviert. Die Haut wird feuchter, ihre Leitfähigkeit verändert sich, der Hautleitwert steigt. 
Es zeigte sich, dass die bloße Anwesenheit einer realen Person die autonome Reaktion auf den aversiven Reiz abschwächen und den Hautleitwert senken kann. Wobei die Personen, die eher sozial ängstlich sind, wie erwartet weniger von der Anwesenheit einer realen Person profitierten. Anders in der virtuellen Welt. 

Angst auslösende Geräusche allein oder in Anwesenheit eines virtuellen Charakters mit unterschiedlichem Grad an menschenähnlichen Eigenschaften

Um ein vergleichbares virtuelles Setting zu haben, kooperierte Hein mit dem Team von Prof. Dr. Marc Erich Latoschik am Lehrstuhl für Mensch-Computer-Interaktionen (HCI) am Center for Intelligence and Data Science (CAIDAS) der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU). Die schalldichte Kabine wurde in der virtuellen Realität nachgebaut und von den weiblichen und männlichen Statisten aus dem realen Studiensetting wurden Ganzkörperscans angefertigt, so dass auch sie 1:1 in die virtuelle Welt übertragen werden konnten. Und tatsächlich zeigte sich in der Studie der Social Buffering-Effekt in der virtuellen Welt auch bei sozial ängstlicheren Personen. „Total verrückt“, sagt Grit Hein. „Den Testpersonen war bewusst, dass es sich um virtuelle Charaktere handelte, die sie durch die VR-Brille wahrnahmen, und trotzdem wirkten sie beruhigend auf sie, was sich an der Senkung des Hautleitwerts zeigte.“

Unheimlich menschlich: Vermeidung des Uncanny Valley-Effekts 

Das Team frage sich daraufhin: Wie menschlich muss ein virtueller Charakter idealerweise sein, damit er beruhigend wirkt und nicht ins Gegenteil umschlägt? Es gibt Forschungen, unter anderem von der Würzburger HCI-AG, die einen Fall in ein unheimliches Tal beschreiben, wenn ein künstliches Wesen zu menschlich aussieht, den so genannten Uncanny Valley-Effekt. Das heißt: Je menschlicher ein künstliches Wesen aussieht, desto sympathischer finden wir es - bis zu einem gewissen Punkt: Ist es zu menschenähnlich aber eben nicht perfekt genug, kann es unplausibel wirken und so Verwirrung, eine so genannte kognitive Dissonanz, sowie unangenehme oder gar beängstigende Gefühle auslösen. 
Und so kamen in der aktuellen Studie zu der weiblichen und der männlichen Figur noch zwei Charaktere mit unterschiedlichen menschenähnlichen Merkmalen hinzu: eine einfache gesichts- und geschlechtslose, hautfarbene Holzpuppe und eine Punktwolke mit den groben Umrissen eines menschlichen Körpers. Ferner wurden die Studienteilnehmerinnen den Schreien allein, ohne virtuelle Figur, ausgesetzt.

Social Buffering mit Social Framing: Gleichgeschlechtliche virtuelle Figur und Holzpuppe wirken beruhigend, wenn sie als soziale Partner wahrgenommen werden

Zur großen Überraschung des Studienteams zeigte Woody, wie die Holzpuppe intern genannt wurde, einen ähnlich signifikanten Social Buffering Effekt wie die virtuelle Frau, während der männliche Charakter eher den gegenteiligen Effekt hatte. Bei der Wolke gab es kein Social Buffering, die Ergebnisse waren vergleichbar mit einem leeren Raum. Auch das sei ein wichtiges Ergebnis, so Grit Hein. Denn es zeige, dass der Social Buffering-Effekt durch mehr als nur Ablenkung hervorgerufen werde.

Aber: Die Holzfigur mit menschenähnlichen Zügen funktionierte nur mit sozialer Bedeutung. Das heißt: Den Probandinnen wurde vorher gesagt, dass der virtuelle Charakter ein Alarmsignal empfangen könne, wenn es ihnen nicht gut geht. Ohne dieses so genannte Social Framing hatte Woody keine beruhigende Wirkung. „Ein menschenähnlicher Charakter kann also durchaus Stress und Ängste reduzieren, sofern er eine soziale Bedeutung hat“, fasst Grit Hein die Ergebnisse der Studie zusammen, die jetzt in der Fachzeitschrift „Computers in Human Behaviour“ veröffentlicht wurde. Diese Erkenntnisse seien vor allem für psychiatrische Patientengruppen interessant, deren Behandlung durch eine virtuelle Therapie ergänzt werden könnte. In einem nächsten Schritt müsse nun herausgefunden werden, wer bei welchem Krankheitsbild auf welchen Charakter anspricht. 

Nur zu wissen, dass ich die Situation verlassen kann, wie etwa mit einem Notfallknopf oder einem Notausgang, würde nicht ausreichen, das wäre zu abstrakt. „Ich brauche ein Gegenüber, was ich als ‚Rettungsanker‘ sehen kann und was mich nicht bewertet, wie eben Woody“, interpretiert Grit Hein die Ergebnisse. Der männliche Charakter habe bei den ausschließlich weiblichen Probandinnen diese Funktion anscheinend nicht erfüllt, obwohl er genau wie Woody oder der weibliche Charakter eingeführt wurde. 

„Unsere größte Erkenntnis war, dass unsere Angstreaktion nicht von der optischen Detailtreue eines virtuellen Charakters abhängt, sondern davon, ob wir ihn als echten sozialen Partner betrachten“, resümiert Dr. Martin Weiß, Postdoktorand in der Arbeitsgruppe für Translationale Soziale Neurowissenschaften am UKW und gemeinsam mit Philipp Krop Erstautor der Studie. „Selbst eine stilisierte Figur kann – wenn wir ihr diese Rolle zuschreiben – unsere physiologischen Furchtreaktionen wirksam abpuffern. Das macht virtuelle Interventionen gegen Angst, wie zum Beispiel virtuelle Agenten oder KI-basierte Lösungen, wesentlich einfacher und günstiger zugänglich“, ergänzt Philipp Krop, wissenschaftlicher Mitarbeiter am CAIDAS.

Relevant für medizinische und gesellschaftliche Apps

Die kooperative Forschung zwischen dem Würzburger Zentrum für Psychische Gesundheit (ZEP) und dem Lehrstuhl für Mensch-Computer-Interaktion (HCI) ist besonders relevant für den boomenden Markt der medizinischen Apps, die oft mit virtuellen Charakteren arbeiten und nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum (Trial and Error) entwickelt werden. Wem folgen wir am liebsten auf dem Weg zu einem gesunden Lebensstil? Wer motiviert uns zu täglichen Übungen? Wem vertrauen wir unsere Ängste und Sorgen an? „Mit unserer Art der Forschung können wir diese medizinischen Anwendungen auf empirische Füße stellen“, sagt Grit Hein. Die Basis ist gelegt, in weiteren Experimenten sollen die Charaktere mit weiteren Eigenschaften aufgeladen werden, etwa mit der Fähigkeit, soziale Signale auszusenden.

Publikation:
Martin Weiß, Philipp Krop, Lukas Treml, Elias Neuser, Mario Botsch, Martin J. Herrmann, Marc Erich Latoschik, Grit Hein. The buffering of autonomic fear responses is moderated by the characteristics of a virtual character. Computers in Human Behavior. Volume 168, 2025, 108657, ISSN 0747-5632, https://doi.org/10.1016/j.chb.2025.108657

Vorgängerstudien in PubMed:
Qi Y, Herrmann MJ, Bell L, Fackler A, Han S, Deckert J, Hein G. The mere physical presence of another person reduces human autonomic responses to aversive sounds. Proc Biol Sci. 2020 Jan 29;287(1919):20192241. doi: 10.1098/rspb.2019.2241. Epub 2020 Jan 22. PMID: 31964306; PMCID: PMC7015327.
Qi Y, Bruch D, Krop P, Herrmann MJ, Latoschik ME, Deckert J, Hein G. Social buffering of human fear is shaped by gender, social concern, and the presence of real vs virtual agents. Transl Psychiatry. 2021 Dec 20;11(1):641. doi: 10.1038/s41398-021-01761-5. PMID: 34930923; PMCID: PMC8688413.

Text: KL / Wissenschaftskommunikation
 

die Collabe zeigt oben zwei Bilder vom virtuellen Labor, links Vogelperspektive, rechts zwei leere Stühle, unten sind vier Bilder von einzelnen Charakteren, die mit dem Rücken zum Betrachter gewandt sind.
Die Verkörperungen der im Experiment verwendeten virtuellen Figur. Oben Ansichten vom leeren Raum, unten v.l.n.r.: Wolke, Holzfigur, weiblich, männlich. Im ersten Versuch wurden die Probandinnen mit einem neutralen Klang konfrontiert, im zweiten Versuch mit einem aversiven Geräusch. © Weiß, Krop et al., Computers in Human Behavior, 2025.
Zwei Bildausschnitte aus dem VR-Labor nebeneinander, VR-Frau und Holzfigur Woody sitzen mit dem Rücken dem Betrachter zugewandt in der schallisolierten VR-Kabine.
Als die Holzfigur Woody eine soziale Bedeutung erhielt, hatte sie einen ähnlich signifikanten Social Buffering Effekt auf die Probandinnen wie die virtuelle Frau und wirkte beruhigend. © Weiß, Krop et al., Computers in Human Behavior, 2025.

3D-Modell zur Erforschung chronischer Nervenschmerzen nach Gürtelrose

Franziska Karl-Schöller erhält den mit 36.000 Euro dotierten EFIC-Grünenthal-Grant für die Entwicklung eines „Innervierten in vitro Hautmodells für postherpetische Neuralgie“. Mit ihrer Forschung kann die Naturwissenschaftlerin dazu beitragen, die Ursachen chronischer Nervenschmerzen nach überstandener Gürtelrose (PHN für postherpetische Neuralgie) besser zu verstehen und neue Therapieansätze zu entwickeln, die langfristig vielen Betroffenen Linderung verschaffen könnten und einen wichtigen Schritt zur Verbesserung der Lebensqualität und Schmerztherapie darstellen.

Preisträgerin im beigefarbenen Anzug mit Urkunde und Trophäe steht auf der Bühne zwischen Vorsitzendem der EFIC-AG für Stipendien und Preise und Global Head of Medical Affairs.
Dr. Franziska Karl-Schöller mit Prof. Thomas Graven-Nielsen (links) und Matias Ferraris (Global Head of Medical Affairs, Grünenthal). @Christophe Meseguer
Die drei Preisträgerinnen auf der Bühne des ESC mit Urkunde und Trophäe
Preisträgerinnen des EFIC-Grünenthal-Grants 2025 v.l.n.r.: Dr. Franziska Karl-Schöller vom UKW, Dr. Ama Kissi aus Belgien und Dr. Maddalena Comini aus Großbritannien. @ Christophe Meseguer
Gruppenbild auf der Bühne mit den drei Preisträgerinnen, die Urkunden und Trophäen in den Händen halten, sowie Vertretern von EFIC und Grünenthal.
Gruppenbild EFIC-Grünenthal-Grant v.l.n.r.: Prof. Thomas Graven-Nielsen (Vorsitzender der EFIC-Arbeitsgruppe für Stipendien und Preise), Dr. Franziska Karl-Schöller, Dr. Ama Kissi, Dr. Maddalena Comini, Matias Ferraris (Global Head of Medical Affairs, Grünenthal), Prof. Luis Garcia (Präsident der European Pain Federation EFIC). @Christophe Meseguer

Würzburg. Weltweit leidet jeder fünfte Mensch an chronischen Schmerzen. Mit Nachwuchsförderung in der Schmerzforschung will die Föderation der Europäischen Schmerzgesellschaften (European Pain Federation, EFIC) gemeinsam mit dem Pharmaunternehmen Grünenthal die Lebensqualität der Betroffenen verbessern und junge Forscherinnen und Forscher auf ihrem Karriereweg unterstützen. In diesem Jahr darf sich neben Ama Kissi aus Belgien und Maddalena Comini aus Großbritannien auch Franziska Karl-Schöller vom Universitätsklinikum Würzburg (UKW) über den EFIC-Grünenthal-Grant (E-G-G) freuen. Die drei Wissenschaftlerinnen setzten sich unter 51 Bewerbungen durch und stellten ihre Projekte auf dem EFIC® Pain in Europe Kongress im April 2025 in Lyon, Frankreich, vor. 

Erstes dreidimensionales, innerviertes Hautmodell zur Erforschung der Gürtelrose - postherpetische Neuralgie (PHN)

Franziska Karl-Schöller will ein erstes dreidimensionales, innerviertes Hautmodell zur Erforschung der PHN etablieren, das die direkte Interaktion zwischen den mit dem Varizella-Zoster-Virus (VZV) infizierten Nervenzellen und menschlichen Hautzellen realitätsnah simuliert. 

Die PHN ist ein chronisches Schmerzsyndrom, das als Komplikation einer Gürtelrose auftritt. Die Gürtelrose selbst, medizinisch Herpes Zoster genannt, ist eine Viruserkrankung, die durch das VZV verursacht wird - dasselbe Virus, das bei einer Erstinfektion die Windpocken auslöst. Nach der Windpockeninfektion überlebt das Virus in den Spinalganglien, einer Ansammlung von Nervenzellkörpern im peripheren Nervensystem. Wird das Virus Jahre oder Jahrzehnte später reaktiviert, kann es sich entlang der Nerven ausbreiten und den schmerzhaften Hautausschlag bei Gürtelrose verursachen. Warum es trotz abgeheilter Gürtelrose bei 10 bis 15 Prozent der Patienten und Patientinnen zu den anhaltenden chronischen Nervenschmerzen bei PHN kommt, ist noch nicht bekannt. 

Einblicke in zugrundeliegende Mechanismen und Ansätze für Therapien 

Franziska Karl-Schöller aus der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Nurcan Üçeyler an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des UKW will genau diese Mechanismen untersuchen. Dazu entwickelt sie zunächst ein dreidimensionales in-vitro-Modell aus gesunden menschlichen Hautzellen. Dieses soll dann mit menschlichen sensiblen Nervenzellen, die zuvor mit VZV infiziert wurden, innerviert werden. Sobald die Hautmodelle erfolgreich innerviert sind ist eine umfassende Analyse geplant. Dabei soll die Genexpression zwischen infizierten und nicht infizierten Hautmodellen verglichen werden, um typische mRNA-Signaturen zu identifizieren, die mit dem Schmerz bei PHN in Verbindung gebracht werden können. Vielversprechende Biomarker werden anschließend auf Proteinebene untersucht. 

„Unsere Hoffnung ist es, neue Einblicke in die zugrundeliegenden Mechanismen der PHN zu gewinnen und damit mögliche Ansätze für innovative Therapien zu finden, die den Betroffenen Linderung verschaffen könnten“, erläutert Franziska Karl-Schöller. Unterstützt wird das Forschungsprojekt von Prof. Jochen Bodem vom Institut für Virologie und Immunbiologie des UKW und Prof. Florian Groeber-Becker vom Fraunhofer-Translationszentrum für Regenerative Therapien TLZ-RT

Text: Wissenschaftskommunikation / KL 
 

Preisträgerin im beigefarbenen Anzug mit Urkunde und Trophäe steht auf der Bühne zwischen Vorsitzendem der EFIC-AG für Stipendien und Preise und Global Head of Medical Affairs.
Dr. Franziska Karl-Schöller mit Prof. Thomas Graven-Nielsen (links) und Matias Ferraris (Global Head of Medical Affairs, Grünenthal). @Christophe Meseguer
Die drei Preisträgerinnen auf der Bühne des ESC mit Urkunde und Trophäe
Preisträgerinnen des EFIC-Grünenthal-Grants 2025 v.l.n.r.: Dr. Franziska Karl-Schöller vom UKW, Dr. Ama Kissi aus Belgien und Dr. Maddalena Comini aus Großbritannien. @ Christophe Meseguer
Gruppenbild auf der Bühne mit den drei Preisträgerinnen, die Urkunden und Trophäen in den Händen halten, sowie Vertretern von EFIC und Grünenthal.
Gruppenbild EFIC-Grünenthal-Grant v.l.n.r.: Prof. Thomas Graven-Nielsen (Vorsitzender der EFIC-Arbeitsgruppe für Stipendien und Preise), Dr. Franziska Karl-Schöller, Dr. Ama Kissi, Dr. Maddalena Comini, Matias Ferraris (Global Head of Medical Affairs, Grünenthal), Prof. Luis Garcia (Präsident der European Pain Federation EFIC). @Christophe Meseguer

Löst Magnetpartikelbildgebung (MPI) das Röntgen ab?

WÜRZBURGER ERFOLGSGESCHICHTE IN DER MEDIZINISCHEN BILDGEBUNG WIRD FORTGESCHRIEBEN / ERSTMALS MENSCHENGROßER MPI-SCANNER ENTWICKELT UND ERFOLGREICH AM REALISTISCHEN MODELL GETESTET

Um eine zuverlässige, strahlenfreie Bildgebung von Kontrastmitteln ohne Hintergrundrauschen bei peripheren Gefäßeingriffen zu ermöglichen, haben Forscherinnen und Forscher aus der Radiologie des Uniklinikums Würzburg und der Experimentellen Physik der Universität Würzburg erstmals einen menschengroßen MPI-Scanner entwickelt und dessen Leistungsfähigkeit an einem realistischen Modell, der Oberschenkelarterie, getestet. Die jetzt in Nature Communications in Medicine veröffentlichte Studie zeigt, dass es möglich ist, Gefäßeingriffe an den Extremitäten ohne Röntgenstrahlung und ohne jodhaltige Kontrastmittel durchzuführen. Dies ist insbesondere für Patientinnen und Patienten mit Nierenproblemen relevant und reduziert das Strahlenrisiko für Behandelte und Behandelnde.

 

Operateure in OP-Kluft stehen am MPI-Scanner und injizieren Tracer- und Kontrasmittelgemisch in Vene
Viktor Hartung und Dr. Anne Marie Augustin aus der Würzburger Radiologie injizieren eine Mischung aus MPI-Tracer und Röntgenkontrastmittel um gleichzeitig Bilder mit dem MPI-Scanner und der Röntgen-Angiographie aufzunehmen. © Hartung et al. Communication Medicine 2025
Beinkadaver eines menschlichen Körperspenders liegt unter einer blauen Plane im MPI-Scanner.
Scanner-Baugruppe mit Sende- und Empfangsspulen über dem Oberschenkel. © Hartung et al. Communication Medicine 2025

Würzburg. Vor 130 Jahren, im Jahr 1895, legte der Physiker Wilhelm Conrad Röntgen in Würzburg den Grundstein für die Entwicklung der medizinischen Bildgebung. Bis heute sind Röntgenstrahlen ein unverzichtbares Hilfsmittel in der medizinischen Diagnostik, vor allem bei der Beurteilung von Knochenbrüchen, Zahn- und Kiefererkrankungen, Lungen- oder Herzerkrankungen sowie bei der Behandlung von Arterienverengungen, Aneurysmen oder Gefäßverschlüssen. Bei diesen so genannten endovaskulären Eingriffen dient die Röntgen-Angiographie zur Darstellung der Blutgefäße und zur Echtzeitüberwachung der Positionierung der Instrumente und der Reaktion der Blutgefäße. Dabei kombinieren die Ärztinnen und Ärzte das Röntgenbild mit einem Kontrastmittel, das sie in die Blutgefäße injizieren.  So können sie Erkrankungen der Blutgefäße genau erkennen und direkt behandeln. Neben den Vorteilen sind aber auch Risiken wie Strahlenbelastung und Kontrastmittelreaktionen zu beachten.

MPI-Scanner in menschlicher Größe erstmals erfolgreich an realem Modell getestet

Eine Alternative für risikoärmere endovaskuläre Eingriffe könnte bald die Magnetpartikelbildgebung (Magnetic Particle Imaging, MPI) bieten. Das Verfahren ist speziell auf die Detektion magnetischer Nanopartikel ausgerichtet und ermöglicht eine schnelle und strahlungsfreie Bildgebung ohne Hintergrundrauschen.
Dr. Patrick Vogel vom Lehrstuhl für Experimentelle Physik V der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU) und sein Team entwickelten erstmals einen MPI-Scanner in Menschengröße. Zusammen mit einer Forschungsgruppe der Universitätsmedizin Würzburg unter Leitung von Dr. Viktor Hartung vom Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) testeten sie diesen erfolgreich in einem realistischen Modell bei einer Gefäßoperation. Die Ergebnisse wurden in der hochrangigen Fachzeitschrift Nature Communications in Medicine veröffentlicht. 

Endovaskuläre Eingriffe ohne Röntgenstrahlen und jodhaltige Kontrastmittel

„Bisher war MPI eher auf Kleintiere oder die präklinische Forschung beschränkt. Mit dem menschengroßen MPI-Scanner haben wir gezeigt, dass Gefäßeingriffe an den Extremitäten – konkret in der Oberschenkelarterie – ohne Röntgenstrahlung und ohne jodhaltige Kontrastmittel durchgeführt werden können. Die ist insbesondere für Patientinnen und Patienten mit Nierenproblemen relevant und bei Strahlenrisiken. Zudem wird dadurch auch das berufliche Strahlenrisiko für die Operateure deutlich reduziert“, erklärt Viktor Hartung, Leiter der kardiovaskulären und thorakalen Radiologie am Uniklinikum Würzburg sowie Leiter der AG Magnetic Particle Imaging. 

Erhöhte Aussagekraft durch reale Anwendungssituation mit menschlichen Beinen

Um die Leistungsfähigkeit des neuen MPI-Scanners in menschlicher Größe zu testen, wurden drei Beine von frisch eingefrorenen menschlichen Körperspendern aus dem Anatomischen Institut der JMU so präpariert, dass eine kontinuierliche Durchblutung einer der Hauptarterien im Oberschenkel möglich war. Unter konstanter Perfusion, also gleichmäßig und ohne Unterbrechung, injizierten die Forscher eine Mischung aus einem speziellen, für Menschen zugelassenen MPI-Tracer und einem Röntgenkontrastmittel in die Oberschenkelarterie. Gleichzeitig nutzten sie den MPI-Scanner und eine herkömmliche Technik, die so genannte digitale Subtraktionsangiographie (DSA), zur Bildgebung. 

„Die gleichzeitige Bildgebung mit DSA und MPI hat reibungslos funktioniert“, freut sich Patrick Vogel. Der Wissenschaftler beschäftigte sich bereits in seiner Doktorarbeit mit MPI und erhielt dafür 2016 den Wilhelm-Conrad-Röntgen-Wissenschaftspreis der Fakultät für Physik und Astronomie sowie den Nano Innovation Award 2017. Der neue MPI-Scanner ließ sich problemlos in die bestehenden klinischen Abläufe integrieren und lieferte klare und zuverlässige Bilder der Blutgefäße. Bereits geringe Mengen des Tracers, 2 ml Perimag® oder 1,5 ml Resotran®, reichten für eine präzise Darstellung aus. Die Ergebnisse waren in allen drei Modellen konsistent und reproduzierbar. „Das spricht für die Praxisnähe unserer Technik und die Relevanz unserer Ergebnisse im medizinischen Alltag“, kommentiert Patrick Vogel, der zusammen mit Prof. Dr. Thorsten Bley Letztautor der Studie ist.

„MPI hat das Potenzial, die klassische Röntgen-Angiographie zu ergänzen oder in Zukunft sogar teilweise zu ersetzen“

In der Studie wurden zudem Tracer verwendet, die bereits für die Anwendung am Menschen zugelassen sind - das bringe die klinische Umsetzung einen entscheidenden Schritt näher, da langwierige Zulassungsprozesse entfielen, so Thorsten Bley. Der Direktor des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie wagt einen Blick in die Zukunft. „MPI hat das Potenzial, die klassische Röntgen-Angiographie zu ergänzen oder in Zukunft sogar teilweise zu ersetzen“. Der nächste Schritt sind erste Messungen am lebenden Menschen.

Text: Wissenschaftskommunikation / KL 

Publikation: Hartung, V., Gruschwitz, P., Augustin, A.M. et al. Magnetic particle imaging angiography of the femoral artery in a human cadaveric perfusion model. Commun Med 5, 75 (2025). https://doi.org/10.1038/s43856-025-00794-x

Operateure in OP-Kluft stehen am MPI-Scanner und injizieren Tracer- und Kontrasmittelgemisch in Vene
Viktor Hartung und Dr. Anne Marie Augustin aus der Würzburger Radiologie injizieren eine Mischung aus MPI-Tracer und Röntgenkontrastmittel um gleichzeitig Bilder mit dem MPI-Scanner und der Röntgen-Angiographie aufzunehmen. © Hartung et al. Communication Medicine 2025
Beinkadaver eines menschlichen Körperspenders liegt unter einer blauen Plane im MPI-Scanner.
Scanner-Baugruppe mit Sende- und Empfangsspulen über dem Oberschenkel. © Hartung et al. Communication Medicine 2025

Dialog zwischen Immunsystem und Nervensystem

Der diesjährige Internationale Tag der Immunologie steht im Zeichen der Neuroimmunologie. Unter dem Motto “Exploring Neuroimmune Crosstalks in Health and Diseases” werden die Wechselwirkungen zwischen dem Nervensystem und dem Immunsystem beleuchtet. Diese komplexen Verbindungen spielen eine entscheidende Rolle bei der Aufrechterhaltung der Gesundheit und der Entstehung von Krankheiten wie etwa Erkrankungen des zentralen Nervensystems (ZNS) oder des peripheren Nervensystems (PNS) außerhalb von Gehirn und Rückenmark betreffen.

Die Neurologie des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) stellt drei Professuren vor, in denen der Dialog zwischen Nerven- und Immunzellen eine Schlüsselrolle spielt: Die experimentelle Schlaganfallforschung von Michael Schuhmann, die translationale Neurologie von Chi Wang Ip mit Schwerpunkt auf neurodegenerativen Bewegungsstörungen wie Morbus Parkinson und die außerplanmäßige Professur von Kathrin Doppler, die sich auf dem Gebiet der Immunneuropathien hervorgetan hat.

 

Collage aus drei freigestellten Porträts der Forschenden mit kleinen Grafiken von Immunzellen und der Überschrift Tag der Immunologie
Zum Tag der Immunologie am 29.4. 2025 mit dem Motto „Neuroimmune Crosstalks“ geben Chi Wang Ip (links), Kathrin Doppler und Michael Schuhmann Einblicke in drei Forschungsbereiche der Neurologie: Parkinson, Immunneuropathien und Schlaganfall. © UKW mit Canva

Würzburg. Normalerweise bildet unser Immunsystem Antikörper, um fremde Eindringlinge wie Viren oder Bakterien zu bekämpfen. Wenn das Immunsystem jedoch die Fähigkeit verliert, zwischen "selbst" und "fremd" zu unterscheiden, identifiziert es plötzlich körpereigene Zellen und Gewebe als gefährlich und geht mit Autoantikörpern gegen sie vor. Eine, die sich seit Jahren mit dem Dialog zwischen Immun- und Nervensystem beschäftigt, ist die außerplanmäßige Professorin Kathrin Doppler. Das Spezialgebiet der Neurologin am Universitätsklinikums Würzburg (UKW) sind Polyneuropathien, bei denen das fehlgeleitete Immunsystem das periphere Nervensystem angreift. Eine Folge dieser so genannten Immunneuropathien sind Lähmungen, Schmerzen, Taubheitsgefühl, Kribbeln und Muskelschwund. 

Autoimmune Nodopathie: Autoantikörper Caspr zerstört Ranviersche Schnürringe und beeinträchtigt Nervenleitung

Mit Anti-Caspr1 hat Kathrin Doppler gemeinsam mit Claudia Sommer und Luise Appeltshauser vor neun Jahren einen Antikörper entdeckt, der an der Entstehung bestimmter Formen von Immunneuropathien beteiligt ist. Bei Patienten mit Antikörpern gegen Caspr1 war der Aufbau der Ranvierschen Schnürringe - einer Struktur an der Nervenfaser, die dafür sorgt, dass Signale aus dem Gehirn schnell und effizient an ihr Ziel gelangen -zerstört und die Nervenleitung stark beeinträchtigt ist. Inzwischen wurden die Immunneuropathien mit Schnürringantikörper als eigenständige Erkrankung, die sogenannte autoimmune Nodopathie, definiert. Die Wissenschaftlerinnen aus der Würzburger Neurologie forschen weiterhin intensiv an der Erkrankung und haben sich weltweit einen Namen auf diesem Gebiet gemacht. In der Klinischen Forschungsgruppe (KFO 5001) ResolvePAIN untersucht Kathrin Doppler gemeinsam mit Prof. Dr. Carmen Villmann vom Institut für Klinische Neurobiologie, wie und warum Autoantikörper gegen das Oberflächenprotein Caspr2 neuropathische Schmerzen hervorrufen und wie sich diese Schmerzen zurückbilden können. Patientinnen und Patienten mit der Diagnose einer Anti- Caspr2-positiven Enzephalitis, einer entzündlichen Reaktion im Gehirn, und Interesse an einer Studienteilnahme sind herzlich willkommen, gemeinsam mit den Wissenschaftlerinnen die Forschung auf diesem Gebiet voranzutreiben. Die Erkrankung ist zwar selten, aber die Erkenntnisse lassen sich durchaus auf andere antikörperassoziierte Erkrankungen übertragen, die Schmerzen auslösen.

Details zur Forschung von Prof. Dr. Kathrin Doppler gibt es hier

Die Rolle des Immunsystems bei der Parkinson-Krankheit

Neben den klassischen neurologischen Autoimmunerkrankungen wie der chronisch entzündlichen demyelinisierenden Polyneuropathie (CIDP) oder der Multiplen Sklerose spielt der so genannte Crosstalk zwischen Nervenzellen und Immunsystem auch bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Morbus Parkinson eine wichtige Rolle. Einer der wenigen, die auf diesem Gebiet forschen, ist Prof. Dr. Chi Wang Ip, stellvertretender Direktor der Klinik für Neurologie.

Lange Zeit galt der M. Parkinson als reine Erkrankung des Nervensystems, bei der die Dopamin produzierenden Nervenzellen im Gehirn absterben, was zu den typischen Symptomen wie Zittern und Muskelsteifheit führt. Doch immer mehr Studien, auch die von Ip und seiner Arbeitsgruppe, deuten darauf hin, dass das Immunsystem an der Entwicklung und möglicherweise sogar an der Entstehung der Parkinson-Krankheit beteiligt ist.

T-Zellen, Mikrogliazellen und das Protein Alpha-Synuclein bei der Parkinson-Krankheit

Ip konnte belegen, dass bei der Parkinson-Krankheit bestimmte Immunzellpopulationen im Gehirn vermehrt und aktiviert sind, insbesondere T-Zellen und Mikrogliazellen. In weiteren Studien verdeutlichte der Neurologe mit seinem Team die Beteiligung des Proteins Alpha-Synuclein (αSyn), das in Nervenzellen vorkommt. Bei der Parkinson-Krankheit ist es aus noch unbekannten Gründen verändert, wodurch das Immunsystem getriggert wird und es zu Entzündungen kommt, welche die Nervenzellen zusätzlich schädigen.

Immunsystem als Biomarker und Therapieansatz

Mit seiner Arbeitsgruppe konzentriert sich Ip auf zwei wichtige Fragen: Kann das Immunsystem als Biomarker sowohl zur Früherkennung der Parkinson-Erkrankung als auch zur Vorhersage des Krankheitsverlaufs genutzt werden? Und lässt sich die Krankheit durch Immunmodulation aufhalten? Gemeinsam mit Kollegen aus der benachbarten Frauenklinik arbeitet Ip beispielsweise daran, eine Immuntoleranz gegen den potentiellen Parkinson-Auslöser Alpha-Synuclein zu entwickeln.

Obwohl noch viele Fragen offen sind, lassen die aktuellen Forschungsansätze auf neue Therapieoptionen hoffen, die über die reine Symptombehandlung hinausgehen. Eine bessere Integration immunologischer Erkenntnisse könnte in Zukunft zu innovativen Behandlungsstrategien führen, die das Leben von Millionen Betroffenen weltweit verbessern.

Ausführliche Informationen zur Forschung von Prof. Dr. Chi Wang Ip finden Sie hier

Wie das Immunsystem Schlaganfälle beeinflusst

Auch Michael Schuhmann, Leiter des Klinischen Labors der Neurologie, ist zuversichtlich, dass seine experimentelle Schlaganfallforschung in absehbarer Zeit in der klinischen Praxis ankommt und die Behandlungsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten spürbar verbessert. Damit wäre ein zentrales Ziel der Hentschel-Stiftung, die seine Stiftungsprofessur für fünf Jahre fördert, erreicht: die Therapieoptionen beim Schlaganfall zu verbessern!

Doch was hat der Schlaganfall mit dem Immunsystem zu tun? Mehr als man denkt. Schon während des Gefäßverschlusses kommt es beim ischämischen Schlaganfall zu einer starken Entzündungsreaktion vor allem in den kleineren Gefäßen, die als Umgehungskreislauf die Umgebung des Infarktkerns, die Penumbra, notdürftig mit Blut versorgen, solange das Hauptgefäß noch verschlossen ist. 

An dieser gefäßbezogenen Entzündungsreaktion sind Thrombozyten, besser bekannt als Blutplättchen, aber auch Immunzellen wie T-Zellen und neutrophile Granulozyten beteiligt. „Sobald das Blutgefäß blockiert ist, reagiert das Endothel, die dünne Zellschicht, die das Innere des Blutgefäßes auskleidet, und Thrombozyten werden aktiviert. Die aktivierten Blutplättchen schlagen Alarm und steuern eine Entzündungsreaktion. Doch statt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen und zu helfen, schädigen die Immunzellen in einer überschießenden Reaktion das Gehirn - auch noch nach der Entfernung des Thrombus, ein Vorgang, der als Ischämie-Reperfusionsschaden auch für andere Organsysteme wie Herz, Niere und Leber beschrieben ist“, erklärt Michael Schuhmann seine Hypothese.

Identifizierung von Signalmolekülen, die zur Thrombo-Inflammation beitragen

In präklinischen Modellen beobachtete der studierte Pharmazeut gemeinsam mit einem interdisziplinären Team auf dem Campus eine enge Interaktion von Thrombozyten und Immunzellen. Es kommt zu einer durch Thrombozytenaktivierung gesteuerten Entzündungsreaktion, der so genannten Thrombo-Inflammation. Dem Team gelang es bereits wichtige Signalmoleküle zu identifizieren, welche die Kommunikation zwischen Thrombozyten und Immunzellen steuern und in experimentellen Modellen die Gewebeschädigung maßgeblich beeinflussen.
Die experimentellen Befunde sind auch auf den Menschen übertragbar. In kleinsten Mengen ischämischen Blutes, das von Kollegen aus der Neuroradiologie bei routinemäßigen Thrombektomien mittels Mikrokathetern gewonnen wurde, konnte eine vergleichbare Thrombozytenaktivierung sowie die Einwanderung von Immunzellen beobachtet werden. 

Neue therapeutische Ansätze

Aus diesen Untersuchungen ergeben sich völlig neue Perspektiven für eine ergänzende Therapie zur reinen Rekanalisation beim akuten Schlaganfall, die darauf abzielt, Entzündungsprozesse zu hemmen. Für Michael Schuhmann ist die Idealvorstellung einer “Zusatztherapie“ jedenfalls klar: „Bereits im Rettungswagen - also unmittelbar nach dem Gefäßverschluss - mit einer anti-thrombo-inflammatorischen Therapie zu beginnen, könnte entscheidend dazu beitragen, das Ausmaß der Hirnschädigung vor der Thrombolyse/Thrombektomie zu begrenzen und damit die Erholungschancen mit einem mittelfristig besseren neurologischen Befinden nach Rekanalisation zu optimieren“. 

Mehr über Michael Schuhmann und seine Forschung erfahren Sie in der ausführlichen Pressemeldung

Zum Internationalen Tag der Immunologie
Am 29. April wird jedes Jahr auf der ganzen Welt der Tag der Immunologie gefeiert. Der von der European Federation of Immunological Societies (EFIS) ins Leben gerufene Tag soll das Bewusstsein der Öffentlichkeit für die Bedeutung der Immunologie und immunologischen Forschung als Grundlage für die individuelle Gesundheit und das Wohlbefinden stärken. 
Killerzellen, Fresszellen, Gedächtniszellen oder Helferzellen. Sie alle sind wichtige Kämpfer in unserem Immunsystem, die unseren Körper vor Krankheitserregern wie Bakterien, Viren und Pilzen sowie Giften schützen. Warum wir diesen Abwehrmechanismen nicht erst Aufmerksamkeit schenken sollten, wenn sie uns im Stich lassen, und wie die Immunologie, also die Lehre der Grundlagen dieser Abwehrmechanismen sowie der Störungen und Fehlfunktionen, unsere Gesundheit verbessern kann, verdeutlichten bereits vor zwei Jahren Fachleute aus verschiedenen Disziplinen am UKW und an Instituten der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (siehe Meldung von 2023).
Im Jahr 2025 steht der Internationale Tag der Immunologie unter dem Motto “Exploring Neuroimmune Crosstalks in Health and Diseases”: Wechselwirkungen zwischen Nerven- und Immunsystem in Gesundheit und Krankheit.
Weitere Informationen zum Tag der Immunologie gibt es auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.
 

Text: KL / Wissenschaftskommunikation

Collage aus drei freigestellten Porträts der Forschenden mit kleinen Grafiken von Immunzellen und der Überschrift Tag der Immunologie
Zum Tag der Immunologie am 29.4. 2025 mit dem Motto „Neuroimmune Crosstalks“ geben Chi Wang Ip (links), Kathrin Doppler und Michael Schuhmann Einblicke in drei Forschungsbereiche der Neurologie: Parkinson, Immunneuropathien und Schlaganfall. © UKW mit Canva

Wie das Immunsystem Schlaganfälle beeinflusst

Michael Schuhmann, Inhaber der Hentschel-Stiftungsprofessur „Experimentelle Schlaganfallforschung“ zum Internationalen Tag der Immunologie 2025

Porträtfoto von Michael Schuhmann in der Natur
Prof. Dr. Michael Schuhmann leitet in der Neurologie das klinische Labor und hat eine Stiftungsprofessur der Hentschel-Stiftung mit dem Titel "Experimentelle Schlaganfallforschung". © Kim Sammet / UKW

Anlässlich des Internationalen Tags der Immunologie am 29. April, der in diesem Jahr unter dem Motto Neuroimmune Crosstalks steht, stellt das Universitätsklinikum Würzburg (UKW) verschiedene Arbeitsgruppen vor, die sich in ihrer Forschung mit den Wechselwirkungen zwischen dem Nervensystem und dem Immunsystem beschäftigen. Hier gibt es einen Einblick in die experimentelle Schlaganfallforschung von Prof. Dr. Michael Schuhmann, Inhaber einer Stiftungsprofessur der Hentschel-Stiftung.

Beim ischämischen Schlaganfall wird ein Teil des Gehirns durch eine Unterbrechung der Blutzufuhr, vor allem durch Blutgerinnsel aus dem Herzen oder der Halsschlagader, nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt. Im Kern des sich entwickelnden Hirninfarkts sterben die empfindlichen Nervenzellen schnell ab, in der Umgebung, der so genannten Penumbra, mit Verzögerung. Je nachdem, welcher Teil des Gehirns betroffen ist, kommt es zu neurologischen Ausfallerscheinungen wie Lähmungen, Sensibilitäts-, Sprach- oder Sehstörungen und vielem mehr. Um die Durchblutung des Gehirns wiederherzustellen und schwere neurologische Schäden zu verhindern, muss das Blutgerinnsel so schnell wie möglich entfernt werden. Das wirksamste Verfahren in der akuten Schlaganfallmedizin ist die kathetergestützte mechanische Entfernung des Blutgerinnsels aus dem verschlossenen Gefäß, die Thrombektomie, gegebenenfalls in Kombination mit einer medikamentösen Auflösung des Blutgerinnsels, der Thrombolyse. Die Erfolgsrate insbesondere der mechanischen Thrombektomie ist hoch. 90 Prozent der Patientinnen und Patienten mit einem nachgewiesenen Großgefäßverschluss können erfolgreich rekanalisiert werden, etwa 50 Prozent erleiden jedoch trotz erfolgreicher Wiederherstellung des Blutflusses bleibende, teils schwere neurologische Defizite oder versterben.

Was läuft beim Schlaganfall pathologisch ab und lässt sich gegebenenfalls modulieren?

Warum profitieren nicht alle Patientinnen und Patienten von einer raschen Rekanalisation? „Um diese Frage beantworten und das Problem lösen zu können, müssen wir die Mechanismen verstehen, die der Schädigung des Gehirns trotz Wiederherstellung des unterbrochenen Blutflusses, der primären Ursache des Schlaganfalls, zugrunde liegen“, sagt Prof. Dr. Michael Schuhmann, Leiter des Klinischen Labors der Neurologie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) und Inhaber einer Stiftungsprofessur der Hentschel-Stiftung, in deren Rahmen seine experimentelle Schlaganfallforschung für fünf Jahre gefördert wird. Der studierte Pharmazeut ist bereits seit 15 Jahren in der Schlaganfallforschung aktiv und kombiniert das gesamte Portfolio der Translation, angefangen bei der Arbeit mit Zellkulturen über präklinische in-vivo-Methoden bis hin zur Analyse menschlicher Blutproben. Seine Projekte passen perfekt zum Stiftungsziel: Therapieoptionen beim Schlaganfall verbessern! Und dafür versucht Michael Schuhmann mit einem interdisziplinären Team am UKW herauszufinden, was beim Schlaganfall über die vorübergehende Unterbrechung der Blutzufuhr zum Gehirn hinaus an Schädigungskaskaden in Gang gesetzt wird, in der Hoffnung, diese zum Wohle der Schlaganfallpatienten beeinflussen zu können. 

Blutplättchen und Immunzellen entscheidend für Infarktwachstum

Jetzt kommt das Immunsystem ins Spiel. Bereits während des Gefäßverschlusses beim ischämischen Schlaganfall kommt es zu einer starken Entzündungsreaktion vor allem in den kleineren Gefäßen, die als Umgehungskreislauf die Umgebung des Infarktkerns, die Penumbra, notdürftig mit Blut versorgen, solange das Hauptgefäß noch verschlossen ist. An dieser gefäßbezogenen Entzündungsreaktion sind Thrombozyten, besser bekannt als Blutplättchen, aber auch Immunzellen wie T-Zellen und neutrophile Granulozyten beteiligt. „Sobald das Blutgefäß blockiert ist, reagiert das Endothel, die dünne Zellschicht, die das Innere des Blutgefäßes auskleidet, und Thrombozyten werden aktiviert. Die aktivierten Blutplättchen schlagen Alarm und steuern eine Entzündungsreaktion. Doch statt ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen und zu helfen, schädigen die Immunzellen in einer überschießenden Reaktion das Gehirn - auch noch nach der Entfernung des Thrombus, ein Vorgang, der als Ischämie-Reperfusionsschaden auch für andere Organsysteme wie Herz, Niere und Leber beschrieben ist“, erklärt Michael Schuhmann seine Hypothese. 

Identifizierung von Signalmolekülen, die zur Thrombo-Inflammation beitragen

In präklinischen Modellen beobachtete das interdisziplinäre Team um Michael Schuhmann in Kooperation mit dem Rudolf-Virchow-Zentrum und dem Institut für Diagnostische und Interventionelle Neuroradiologie am UKW eine enge Zusammenarbeit zwischen Thrombozyten und Immunzellen. Es kommt zu einer durch Thrombozytenaktivierung gesteuerten Entzündungsreaktion – Thrombo-Inflammation, ein in Würzburg geprägter und inzwischen international etablierter Begriff –, die über die Phase des akuten Gefäßverschlusses hinaus in die Rekanalisationsphase hineinreicht und maßgeblich zum Ischämie-Reperfusionsschaden beiträgt. Wesentliche Signalmoleküle konnten bereits identifiziert werden. So konnte die Blockade der thrombozytären Glykoproteinrezeptoren GPIb und GPVI in experimentellen Modellen sowohl die Entzündungsreaktion als auch die Gewebeschädigung signifikant abschwächen und die neurologischen Ausfallerscheinungen mildern. Auch ist es gelungen, mit CD84 ein erstes Signalmolekül zu identifizieren, das die Kommunikation zwischen Thrombozyten und Immunzellen, in diesem Fall T-Zellen steuert. 

Neue therapeutische Ansätze

Es stellt sich immer die Frage, inwieweit die experimentellen Befunde auf den Menschen übertragbar sind. Auch hier ist in enger Zusammenarbeit mit der Neuroradiologie am UKW ein Durchbruch gelungen. Die Kollegen konnten während routinemäßiger Thrombektomien mittels Mikrokathetern hinter dem verschlossenen Gefäß kleinste Mengen ischämischen Blutes entnehmen, die im neurologischen Labor näher untersucht wurden. Das Team bestätigte eine ähnliche Thrombozytenaktivierung und Einwanderung von Immunzellen wie im Experiment und belegte damit die Übertragbarkeit der in präklinischen Modellen gewonnenen Erkenntnisse auf den Menschen. 

„Aus diesen Untersuchungen ergeben sich völlig neue Perspektiven für eine „Zusatztherapie“ zur reinen Rekanalisation beim akuten Schlaganfall, die unter anderem auf thrombozytäre Moleküle wie GPVI abzielt, um Entzündungsprozesse zu hemmen, und nicht wie bisherige Ansätze auf die Bildung neuer Thromben. Wir haben bereits sehr große Fortschritte im Verständnis dieser Prozesse jenseits der Thrombenbildung gemacht. Aktuelle Untersuchungen zielen auf die genauen Mechanismen der Schädigung der Blut-Hirn-Schranke und letztendlich der Nervenzellen, deren Ausfall die neurologischen Ausfälle verursacht“, so Schuhmann. 

Für Michael Schuhmann ist die Idealvorstellung einer komplementären Therapie jedenfalls klar: „Schon im Rettungswagen – also unmittelbar nach dem Gefäßverschluss – mit einer anti-thrombo-inflammatorischen Behandlung zu beginnen, könnte entscheidend dazu beitragen, das Ausmaß der Hirnschädigung vor der Thrombolyse/Thrombektomie zu begrenzen und damit die Erholungschancen mit einem mittelfristig besseren neurologischen Befinden nach Rekanalisation zu optimieren.“ 

Der Wissenschaftler zeigt sich zuversichtlich, dass seine experimentelle Schlaganfallforschung in absehbarer Zeit in der klinischen Praxis ankommt – und die Behandlungsmöglichkeiten für Patientinnen und Patienten spürbar verbessert. Damit wäre ein zentrales Ziel der Hentschel-Stiftung erreicht.

Über Prof. Dr. Michael Schuhmann
Nach dem Pharmaziestudium an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg und der Approbation als Apotheker begann Michael Schuhmann (Jahrgang 1982) im Jahr 2008 seine Promotion und damit seine neuroimmunologische Grundausbildung in der Arbeitsgruppe von Prof. Heinz Wiendl und Prof. Sven Meuth. Er forschte über die Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose, bei der es zu chronischen Entzündungen im Gehirn und Rückenmark kommt. Parallel dazu hatte Schuhmann bereits Kooperationsprojekte mit der Arbeitsgruppe von Prof. Guido Stoll und Prof. Christoph Kleinschnitz in der experimentellen Schlaganfallforschung, der er sich ab 2013 als Postdoc anschloss und sich entsprechend in die in vivo Schlaganfallmodelle einarbeitete. Er erweiterte das Methodenspektrum der AG entscheidend um in-vitro Schlaganfallmodelle und seine immunologische Expertise.  Mit der Übernahme der Leitung des neuroimmunologischen und Liquorlabors der Neurologie im Jahr 2016 trieb er neben der klinischen Routine insbesondere die Analytik von pialen Blutproben von Schlaganfallpatienten voran. Schuhmann ist seit 2016 selbständiger wissenschaftlicher Arbeitsgruppenleiter, habilitierte sich 2022 und erhielt 2024 die W2-Professur für Experimentelle Schlaganfallforschung an der Neurologischen Klinik, die für fünf Jahre als Hentschel-Stiftungsprofessur gefördert wird.

Weitere Informationen zum Tag der Immunologie gibt es auf der Webseite der Deutschen Gesellschaft für Immunologie.

Text: KL / Wissenschaftskommunikation
 

Porträtfoto von Michael Schuhmann in der Natur
Prof. Dr. Michael Schuhmann leitet in der Neurologie das klinische Labor und hat eine Stiftungsprofessur der Hentschel-Stiftung mit dem Titel "Experimentelle Schlaganfallforschung". © Kim Sammet / UKW