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Virtuelle Realität verbessert langfristiges Lernen in der Notfallmedizin

Medizinstudierende sind durch ein Training mit virtueller Realität (VR) langfristig besser auf medizinische Notfälle vorbereitet als durch traditionelle Lehrmethoden

Eine Medizinstudierende bewegt sich mit virtueller Brille in einem Untersuchungsraum
VR-Simulation in der Lehrklinik des Uniklinikums Würzburg. © Annett Köhler / AG VR Simulation im Medizinstudium
Collage aus vier Bildern mit Feedback-Komponenten
Bei der interaktiven VR-Simulation eines Notfalls gab es verschiedene Feedback-Komponenten wie positive Benachrichtigungen in grün für korrekt ausgeführte Aktionen, oben im Bild eine Echokardiografie, sowie als direkte Ausgabe von medizinischen Geräten (EKG), Ergebnisse der Diagnostik im virtuellen Computermenü und eine abschließende Bewertung im Checklistenformat. © AG VR Simulation im Medizinstudium

Würzburg. In den ersten Berufsjahren stehen junge Ärztinnen und Ärzte oft vor der Herausforderung, unter Zeitdruck schnell Entscheidungen zu treffen, Aufgaben richtig zu priorisieren und auf wichtige praktische Erfahrungen zurückzugreifen. Gerade in Notfallsituationen sind diese Fähigkeiten von entscheidender Bedeutung. Genau hier setzt die Technologie der virtuellen Realität (VR) an. Sie ermöglicht realistische und interaktive Lernszenarien, in denen Studierende risikofrei anhand standardisierter Notfallfälle trainieren können.

Erkenntnisse wurden im Journal of Medical Internet Research veröffentlicht

Am Uniklinikum Würzburg (UKW) wurde dafür gemeinsam mit dem Münchner 3D-Visualisierungsunternehmen ThreeDee, das VR-basierte Trainingsprogramm STEP-VR (Simulation-based Training of Emergencies for Physicians using Virtual Reality) entwickelt. Unter welchen Voraussetzungen lässt sich dieses VR-Training am besten in die medizinische Lehre integrieren, um die Notfallkompetenz angehender Ärztinnen und Ärzte nachhaltig zu stärken? Diese Frage erforscht die Arbeitsgruppe „Virtual Reality Simulation im Medizinstudium“ unter der Leitung von Dr. Tobias Mühling. „Bislang gab es nur begrenzt belastbare Belege dafür, welche objektiven Lerneffekte VR-basierte Notfalltrainings sowohl kurzfristig als auch langfristig erzielen können. Mit unseren neuesten Untersuchungen konnten wir jedoch zeigen, dass virtuelle Realität eine wertvolle Ergänzung zu bestehenden Trainingsmethoden in der medizinischen Ausbildung sein kann – besonders, wenn es darum geht, wichtige Inhalte nachhaltig zu vermitteln“, sagt Tobias Mühling. Die Ergebnisse wurden im renommierten Journal of Medical Internet Research veröffentlicht. 

Im Rahmen der randomisiert-kontrollierten Studie wurden 72 Medizinstudierende zu zwei häufigen Notfällen – Herzinfarkt und Atemnot bei chronischer Lungenerkrankung – geschult. Die eine Hälfte von ihnen (Interventionsgruppe) absolvierte eine interaktive VR-Simulation mit automatischem Feedback, die andere Hälfte (Kontrollgruppe) absolvierte interaktive Videoseminare.

VR-Training wirkungsvoller, spannender und hilfreicher 

Direkt nach dem Training schnitten beide Gruppen beim Wissenstest ähnlich gut ab. Nach 30 Tagen zeigte sich jedoch ein klarer Vorteil für die VR-Gruppe: Ihre Teilnehmerinnen und Teilnehmer konnten sich deutlich mehr Wissen merken. Insgesamt bewerteten die Studierenden das VR-Training auch als wirkungsvoller, spannender und hilfreicher. Während des virtuellen Trainings stieg zwar die körperliche Stressreaktion, gemessen über Hautsensoren, an, doch dieser Stress hatte kaum Einfluss auf das Lernergebnis. Auch das subjektive Stressempfinden der Teilnehmenden spielte keine große Rolle. 

„Unser Fazit lautet: Selbstgesteuerte, VR-basierte Notfalltrainings mit automatischem Feedback können motivieren und sind langfristig wirksamer. Wir gehen also davon aus, dass die Studierenden das Wissen aus solchen Simulationen auch mit in den Berufsalltag nehmen“, so Tobias Mühling.

Publikation:
Marco Lindner, Tobias Leutritz, Joy Backhaus, Sarah König, Tobias Mühling. Knowledge Gain and the Impact of Stress in a Fully Immersive Virtual Reality–Based Medical Emergencies Training With Automated Feedback: Randomized Controlled Trial. J Med Internet Res 2025;27:e67412 doi: 10.2196/67412PMID: 40465566

Text: Wissenschaftskommunikation /KL

Mit Antikörpern beladene Vliese sollen das Immunsystem stimulieren

Oft tauchen Jahre nach scheinbar überstandenen Brustkrebs-Erkrankungen doch noch Metastasen auf. In solchen Fällen haben Krebszellen unauffällig im Körper überdauert, sind gewandert und wachsen nun im Gehirn, der Leber, der Lunge oder der Haut weiter.

Vliese aus Kieselgelfasern
So sehen die Vliese aus Kieselgelfasern aus, die für einen Einsatz in der Krebstherapie weiterentwickelt werden. (Bild: Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC)
Immunzellen (rot) attackieren Brustkrebszellen (grün) in einem 3D-Gewebemodel
Immunzellen (rot) attackieren Brustkrebszellen (grün) in einem 3D-Gewebemodell. Die Zellkerne sind blau. Immunfluoreszenzfärbung eines Gewebeschnitts. (Bild: Universitätsklinikum Würzburg)
Gesponnenes Vlies
Ein gesponnenes Vlies soll als lokale Trägermatrix für T-Zell-aktivierende Antikörper dienen. (Bild: Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC)

Auf der Haut erscheinen die Metastasen als gut eingrenzbare Flächen. Theoretisch könnten sie darum relativ zielgenau lokal behandelt werden – doch in der Praxis sprechen sie meist nicht auf die gängigen Behandlungsformen an. Dieses Problem wollen Würzburger Forschende mit einer innovativen Herangehensweise lösen.

Die Idee: Hauchfeine Gewebe aus Kieselgel werden mit Antikörpern beladen und mit den Hautmetastasen in Kontakt gebracht. Die Antikörper stimulieren das Immunsystem dazu, die Krebszellen anzugreifen. Die Metastasen bilden sich zurück oder verschwinden im Idealfall komplett.

1,5 Millionen Euro vom Bundesforschungsministerium

Um dieses Ziel zu erreichen, haben sich in Würzburg Forschende der Julius-Maximilians-Universität (JMU), des Universitätsklinikums (UKW) und des Fraunhofer-Instituts für Silicatforschung ISC zusammengetan. Das Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt fördert das Vorhaben des Verbunds mit 1,5 Millionen Euro für drei Jahre ab April 2025.

Der JMU-Immunologe Dr. Niklas Beyersdorf koordiniert den Verbund: „Am Ende der Projektlaufzeit möchten wir einen Medikamenten-Prototypen haben, der dann noch weiter studiert und entwickelt werden muss, bevor erste Tests an Menschen möglich sind.“ Als Fernziel seien pflasterartige Kieselgel-Vliese für größere, geschwürige Metastasen denkbar, aber auch sehr kleine Vliese, die in die Metastasen injiziert werden. So könnte Patientinnen am Ende eine sichere, kostengünstige und einfach zu handhabende zusätzliche Therapieoption zur Verfügung stehen.

Neben dem metastasierten Brustkrebs kommen auch andere Krebsformen für die Anwendung infrage, etwa das metastasierte maligne Melanom oder Kopf-Hals-Tumoren, etwa in der Mundhöhle oder der Nase. „Der neue Therapie-Ansatz stillt damit nicht nur einem sehr hohen medizinischen Bedarf, sondern verspricht auch wirtschaftliche Rentabilität“, sagt Beyersdorf.

Expertise aus drei Institutionen vereint

Die neuartige lokale Immuntherapie wird in einem interdisziplinären Ansatz zwischen Materialwissenschaften, Immunologie und Tissue Engineering (Gewebezüchtung) entwickelt.

Die auf Basis der RENACER®-Materialplattform hergestellten Vliese werden bei Dr. Jörn Probst am Fraunhofer ISC/TLZ-RT designt. Die eingesetzte Kieselgel-Variante ist ein biologisch gut verträgliches Material, das im Körper mit der Zeit von alleine zerfällt. Wie lange das Kieselgel in Faserform bleiben soll, bevor es vollständig zu Monokieselsäure abbaut, lässt sich bei der Produktion des Materials einstellen. Zu klären gilt es im Team von Dr. Probst unter anderem, welche Struktur die Vliese haben und wie sie mit Antikörpern beladen werden müssen, um ihren Job gegen Hautmetastasen so gut wie möglich erledigen zu können.

Die Wirkung der Vliese auf Zellen des Immunsystems, insbesondere auf T-Zellen, wird in der Gruppe von Dr. Niklas Beyersdorf am JMU-Institut für Virologie und Immunbiologie untersucht. Dabei geht es darum herauszufinden, welche Vlies-Typen besonders gut geeignet sind, T-Zellen zu aktivieren. Die Aktivierung durch die Vliese soll die T-Zellen in die Lage versetzen, die Brustkrebszellen in der Metastase anzugreifen und zu zerstören.

Das Team von Dr. Gudrun Dandekar am UKW-Lehrstuhl für Funktionswerkstoffe der Medizin und Zahnheilkunde (FMZ) ist in der Lage zu testen, wie gut die Aktivierung von T-Zellen mit Antikörper beladenen Vliesen gegen Metastasen wirkt. Das wird mit einem neu entwickelten 3D-Gewebemodell für den metastasierten Brustkrebs gemacht. Das Modell wird mit T-Zellen beladen und mit den Antikörper-Vliesen in Kontakt gebracht. So lässt sich deren Wirkung ganz ohne Tierversuche beurteilen. Weil das 3D-Testmodell ausschließlich aus menschlichen Zellen aufgebaut wird, hat es eine sehr hohe Vorhersagekraft für zukünftige Anwendung bei Patientinnen und Patienten.

Vorhaben der Fördermaßnahme VIP+

Das Verbundprojekt heißt „Krebs-Immuntherapie durch lokale T-Zell-Aktivierung über mit monoklonalen Antikörpern beschichtete Vliese“ (KITAMAKI). Das Bundesforschungsministerium fördert es im Rahmen der Maßnahme „Validierung des technologischen und gesellschaftlichen Innovationspotenzials wissenschaftlicher Forschung – VIP+“. Diese verfolgt das Ziel, die Anwendungspotenziale exzellenter Forschung noch schneller und effektiver zu identifizieren und für Wirtschaft und Gesellschaft nutzbar zu machen.

 

Kontakt
PD Dr. Niklas Beyersdorf, KITAMAKI-Verbundkoordinator, Institut für Virologie und Immunbiologie, Universität Würzburg, niklas.beyersdorf@ uni-wuerzburg.de

Pressemitteilung der Julius-Maximilians-Universität (JMU) Würzburg vom 26. Mai 2025

Vliese aus Kieselgelfasern
So sehen die Vliese aus Kieselgelfasern aus, die für einen Einsatz in der Krebstherapie weiterentwickelt werden. (Bild: Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC)
Immunzellen (rot) attackieren Brustkrebszellen (grün) in einem 3D-Gewebemodel
Immunzellen (rot) attackieren Brustkrebszellen (grün) in einem 3D-Gewebemodell. Die Zellkerne sind blau. Immunfluoreszenzfärbung eines Gewebeschnitts. (Bild: Universitätsklinikum Würzburg)
Gesponnenes Vlies
Ein gesponnenes Vlies soll als lokale Trägermatrix für T-Zell-aktivierende Antikörper dienen. (Bild: Fraunhofer-Institut für Silicatforschung ISC)

Seniorprofessur am UKW: Damit das Wissen nicht versandet

Prof. Dr. Claudia Sommer blickt auf 30 Jahre in der Neurologie zurück und beginnt ihre Seniorprofessur am Zentrum für interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZiS)

Jens Volkmann im blauen Anzug neben Claudia Sommer in dunkler Hose und hellem Blazer stehen nebeneinander im Hörsaal der Neurologie  und lächeln in die Kamera.
Prof. Dr. Jens Volkmann, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik des UKW, verabschiedet Oberärztin Prof. Dr. Claudia Sommer, die ihre Forschung als Seniorprofessorin im Zentrum für interdisziplinäre Schmerzmedizin fortsetzt. © Brigitte May / UKW
Klaus Viktor Toyka steht am Rednerpult im Hörsaal, vor ihm ein großer bunter Blumenstrauße in einer Bodenvase.
Im März 1995 stellte Prof. Dr. Klaus Viktor Toyka, seinerzeit Direktor der Neurologie, Claudia Sommer als Oberärztin ein. Beim Symposium am 2. Mai 2025 hielt er anlässlich der Verabschiedung von Prof. Dr. Claudia Sommer ein Grußwort. © Brigitte May / UKW
Bild vom vollen Hörsaal der Neurologie, vorne im Bild Claudia Sommer, die mit dem Publikum gebannt nach vorn schaut.
Anlässlich ihrer Verabschiedung aus der Neurologie lud Prof. Dr. Claudia Sommer zum Symposium „30 Jahre Neurologin“ ein. Es gab Grußworte und Vorträge, die sich um die Forschung aus dieser Zeit, ihre Entwicklungen und zukünftigen Möglichkeiten rankten. © Brigitte May / UKW

Würzburg. Zu den ersten Aufgaben, die Claudia Sommer im März 1995 nach ihrem Dienstantritt in der Neurologie des Uniklinikums Würzburg (UKW) erhielt, zählte das Aufhängen von Rauchverbotsschildern. Doch die damals 36-jährige Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie weigerte sich. „Als neue Oberärztin wollte ich mich nicht gleich bei allen Raucherinnen und Rauchern unbeliebt machen“, erzählt sie. Für die nachfolgenden Generationen ist es heute unvorstellbar, dass einst überhaupt im Klinikgebäude geraucht wurde oder dass Ärztinnen und Ärzte ständig nach verlorenen Röntgenbildern durch das Haus liefen und abends nicht heimgehen durften, bevor sie die Laborzettel nicht eigenhändig in die Patientenakte geklebt hatten. Solche und weitere Anekdoten wurden am 2. Mai 2025 im voll besetzten Hörsaal der Kopfkliniken zum Besten gegeben. Prof. Dr. Claudia Sommer hatte Weggefährtinnen und Weggefährten zu einem Symposium eingeladen, um sich nach 30 Jahren gebührend zu verabschieden und einen Blick auf die aktuelle Forschung und potenzielle Entwicklungen zu werfen.

Weiterhin Sprecherin der Klinischen Forschungsgruppe ResolvePAIN

Claudia Sommer geht nämlich nicht wirklich. Sie ist von B1 den Berg hoch ins Gebäude A9 gezogen, von der Neurologie ins Zentrum für interdisziplinäre Schmerzmedizin (ZiS), wo sie sich mit Prof. Heike Rittner ein Zimmer teilt. Gemeinsam leiten die Medizinerinnen die Klinische Forschungsgruppe (KFO 5001) ResolvePAIN, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) inzwischen in der zweiten Förderperiode unterstützt wird (siehe Meldung vom 17.12.2024). Claudia Sommer ist nicht nur Projekte der Forschungsgruppe eingebunden, deren Sprecherin sie ist, sondern auch des Sonderforschungsbereichs SFB 1158 der Universität Heidelberg. Derzeit betreut sie acht naturwissenschaftliche Doktorandinnen und Doktoranden sowie circa 20 medizinische in verschiedenen Stadien der Dissertation.

Privileg einer Seniorprofessur

„Über das Privileg, als Seniorprofessorin weiterarbeiten zu dürfen, bin ich unendlich dankbar“, freut sich Claudia Sommer. Den Ortswechsel hält sie für wichtig, um der nachfolgenden Generation Platz zu machen. Aber es sei für sie schwer vorstellbar, „die tollen Kollegen und Kooperationspartner, die mich immer wieder intellektuell fordern, nicht mehr um sich zu haben. „Oder die vielen jungen Studierenden, die mit mir arbeiten wollen. Das ist doch wunderbar.“ Die Seniorprofessur sei keine Selbstverständlichkeit. Viele Kliniken böten ihren pensionierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nicht die Gelegenheit, im Rahmen einer Seniorprofessur weiterzuarbeiten. Dabei wäre es doch schade um das über all die Jahre angesammelte Wissen, das sonst versanden würde.

Meilensteine in der Erforschung von Schmerz, Polyneuropathien, Fibromyalgie und Stiff-Person-Syndrom

Claudia Sommer hat sich neben der Schmerzforschung vor allem im Bereich Polyneuropathien hervorgetan. Dabei handelt es sich um Erkrankungen des peripheren Nervensystems, also der Nerven außerhalb von Gehirn und Rückenmark. So hat sie mit ihrem Team beispielsweise einen Autoantikörper entdeckt, der die Ranvierschen Schnürringe zerstört. Diese Struktur befindet sich an den Nervenfasern und sorgt dafür, dass Signale aus dem Gehirn ihr Ziel erreichen. Inzwischen ist dies ein eigenes Forschungsgebiet geworden, in dem sich die Forscherinnen weltweit einen Namen gemacht haben. Zudem konnte Claudia Sommer zeigen, dass beim Stiff-Person-Syndrom Antikörper die Neurone angreifen. Ferner hat sie mit ihrer Forschung Fibromyalgie-Betroffene vom Stigma befreit, der chronische Schmerz hänge nur mit der Psyche zusammen.

Von Patientinnen und Patienten lernen und Forschungsfragen erhalten

Die gebürtige Pfälzerin wollte schon als Kind Forscherin werden. Ihre Forschungsfragen erhielt sie von den Patientinnen und Patienten, somit waren in ihrem gesamten Berufsleben Klinik und Forschung untrennbar miteinander verbunden. „Mich hat immer fasziniert, bei unerklärten Krankheiten, an die vielleicht kaum jemand glaubt, Mechanismen zu entdecken und zu zeigen, dass im Körper tatsächlich etwas passiert und wir das Phänomen ernst nehmen müssen.” Jede Patientin und jeder Patient war für sie ein Rätsel, das es zu lösen galt.

Als Seniorprofessorin darf sie Patientinnen und Patienten nur noch im Rahmen von Forschungsprojekten behandeln. „Das ist schade, aber die Patientinnen und Patienten in der Klinik sind gut versorgt. Ich habe sehr gute Nachfolgerinnen und Nachfolger.“ Was sie weniger vermissen werde, sei das Schreiben von Anträgen, das bisweilen sehr arbeitsintensiv, anstrengend und manchmal auch frustrierend gewesen sei. Doch sie ist schon wieder bei vielen Anträgen mit im Boot. „Mir fällt es schwer, bei spannenden Projekten nein zu sagen. Und solange ich noch Energie habe und es mir Spaß macht, warum nicht?“

Präsidentin der Peripheral Nerve Society und Herausgeberin des European Journal of Neurology

Auch andere Institutionen strecken ihre Fühler aus, jetzt, da sich herumgesprochen hat, dass sie in Zukunft mehr Zeit haben könnte. So wird sie ab Sommer 2025 zwei Jahre lang President Elect und weitere zwei Jahre Präsidentin Peripheral Nerve Society sein. Zudem unterstützt sie aktiv die GBS|CIDP Foundation International. Die weltweit tätige, gemeinnützige Organisation unterstützt Menschen, die vom Guillain-Barré-Syndrom (GBS), von der chronisch-entzündlichen demyelinisierenden Polyradikuloneuropathie (CIDP), von der multifokalen motorischen Neuropathie (MMN) und von verwandten Erkrankungen betroffen sind. Außerdem wird sie demnächst Herausgeberin des European Journal of Neurology sein, für das sie in den vergangenen Jahren stellvertretende Herausgeberin war.

Von ihrem Ziel, demnächst nur noch halbtags zu arbeiten, ist sie noch weit entfernt. Doch sie genießt bereits jetzt einige Freiheiten, die der Klinikalltag nicht zuließ. So ist es für sie ein unglaublicher Luxus, morgens vor der Arbeit Tennis zu spielen oder nach einem Kongress in Apulien eine Woche Urlaub in Italien dranzuhängen.

Bahnbrechende Fortschritte in der Behandlung von Schlaganfällen und Multipler Sklerose

Abgesehen von der Digitalisierung und rauchfreien Klinik stehen für sie auf der positiven Bilanz der vergangenen 30 Jahre in der Neurologie die Durchbrüche in der Behandlung von Schlaganfällen und Multipler Sklerose. „In meiner Zeit als Assistenzärztin war die Schlaganfallbehandlung Schicksal. Heute kann jeder, der rechtzeitig kommt, behandelt werden – dank des fantastischen Zusammenspiels von Verständnis dafür, was bei einem Schlaganfall passiert, und Technik zur Entfernung des Thrombus. Und die Diagnose Multiple Sklerose bedeutet heute nicht mehr automatisch einen frühen Tod. Dank moderner Therapien können viele Betroffene mit MS ein ganz normales Leben führen.“

Ihr Blick in die Zukunft ist vorsichtig optimistisch: Zwar ist es nicht ihr Forschungsgebiet, aber sie würde gern miterleben, wie ALS behandelt werden kann – eine schreckliche Krankheit, die Menschen plötzlich und unerwartet aus dem Leben reißt. Bei den immunologisch bedingten Neuropathien ist man ihrer Meinung nach auf einem sehr guten Weg. In der Schmerztherapie hofft sie, dass eine der vielen Ideen zu einem Medikament führen wird, das Schmerzen signifikant reduziert und kaum oder keine Nebenwirkungen hat. Im Moment können sie den Schmerz im Durchschnitt auf 50 Prozent senken. Doch damit ist sie nicht zufrieden. „Wenn der Schmerz als Warnzeichen keinen Sinn mehr macht, dann soll er ganz verschwinden.“ Claudia Sommer arbeitet daran.

Probandinnen und Probanden für verschiedene Studien gesucht

Die Forschung von Claudia Sommer, ihren Kolleginnen und Kollegen sowie Doktorandinnen und Doktoranden wäre nicht möglich, ohne das Mitwirken der Patientinnen und Patienten und gesunden Kontrollpersonen, die an den Studien teilnehmen. Das Engagement der Bürgerinnen und Bürger aus Würzburg und Umgebung ist erstaunlich gut, freut sich Claudia Sommer und bedankt sich bei allen bisherigen und zukünftigen Studienteilnehmenden für ihren oft selbstlosen Einsatz, mit dem sie maßgeblich zum Erkenntnisgewinn beitragen. Derzeit werden für verschiedene Studien gesunde Kontrollpersonen gesucht sowie Patientinnen und Patienten mit Migräne (siehe Meldung vom 28. März 2025)

Ein ausführliches Porträt über Prof. Dr. Claudia Sommer gibt es in der UKW-Serie #WomenInScience.

Text: Wissenschaftskommunikation UKW / KL 

Jens Volkmann im blauen Anzug neben Claudia Sommer in dunkler Hose und hellem Blazer stehen nebeneinander im Hörsaal der Neurologie  und lächeln in die Kamera.
Prof. Dr. Jens Volkmann, Direktor der Neurologischen Klinik und Poliklinik des UKW, verabschiedet Oberärztin Prof. Dr. Claudia Sommer, die ihre Forschung als Seniorprofessorin im Zentrum für interdisziplinäre Schmerzmedizin fortsetzt. © Brigitte May / UKW
Klaus Viktor Toyka steht am Rednerpult im Hörsaal, vor ihm ein großer bunter Blumenstrauße in einer Bodenvase.
Im März 1995 stellte Prof. Dr. Klaus Viktor Toyka, seinerzeit Direktor der Neurologie, Claudia Sommer als Oberärztin ein. Beim Symposium am 2. Mai 2025 hielt er anlässlich der Verabschiedung von Prof. Dr. Claudia Sommer ein Grußwort. © Brigitte May / UKW
Bild vom vollen Hörsaal der Neurologie, vorne im Bild Claudia Sommer, die mit dem Publikum gebannt nach vorn schaut.
Anlässlich ihrer Verabschiedung aus der Neurologie lud Prof. Dr. Claudia Sommer zum Symposium „30 Jahre Neurologin“ ein. Es gab Grußworte und Vorträge, die sich um die Forschung aus dieser Zeit, ihre Entwicklungen und zukünftigen Möglichkeiten rankten. © Brigitte May / UKW

Telemedizin gleicht Versorgungsnachteil aus

Telemedizin kann Leben retten – vor allem dort, wo der Weg zur kardiologischen Praxis weit ist. Eine neue Auswertung der vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) geförderten TIM-HF2-Studie zeigt dies eindrucksvoll: Herzinsuffizienz-Patientinnen und -Patienten, die weit von einer kardiologischen Versorgung entfernt leben, profitieren besonders stark von der telemedizinischen Überwachung. Ihre Sterblichkeit war bei der digitalen Fernüberwachung deutlich geringer. Die im Fachmagazin „Lancet Regional Health – Europe“ veröffentlichte Studie ist eine Kooperation der Charité – Universitätsmedizin Berlin und der Universitätskliniken in Würzburg und Hamburg und wurde beim Heart Failure Congress der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie vorgestellt. Sie liefert wichtige Hinweise, wie Telemedizin helfen kann, Versorgungsungleichheiten zwischen Stadt und Land auszugleichen.

 

Die drei Autoren der Studie stehen in Anzügen vor der Bühne des HFA Kongresses.
Stefan Störk, Fabian Kerwagen und Friedrich Köhler (v.l.n.r.) stellten die aktuelle Studie am 18. Mai 2025, beim Heart Failure Congress der European Society of Cardiology in Belgrad vor. © privat
Patientin, die daheim am Wohnzimmertisch sitzt, misst ihren Blutdruck
Spezielle mit Sensoren ausgestattete Messgeräte übertragen die Gesundheitswerte der Herzinsuffizienz-Patientinnen und -Patienten täglich drahtlos an das Telemedizinzentrum der Charité – Universitätsmedizin Berlin, sodass auf auffällige Messwerte sofort reagiert und die Therapie frühzeitig angepasst werden kann. © DZHC
Karte aus der Publikation mit Vergrößerung der Region rund um Würzburg
Verteilung der Kardiologen und Patienten in Deutschland und exemplarisch für Würzburg. Die Karte veranschaulicht die Verteilung von Kardiologen und Patienten über Deutschland, einschließlich der Anfahrtswege für jeden Patienten. Das Beispiel Würzburg zeigt, dass Patienten aus verschiedenen Bezirken (Bezirksgrenzen innerhalb Unterfrankens sind mit dünnen weißen Linien dargestellt) und aus einem anderen Bundesland (Landesgrenzen sind mit dicken weißen Linien dargestellt) in Würzburg behandelt wurden. RPM = remote patient management, UC = Usual Care. © Kerwagen et al, The Lancet Regional Health – Europa, 2025, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321
Drei Grafiken aus der Publikation
Primäre und wichtige sekundäre Endpunkte nach der Entfernung zwischen dem Wohnort des Patienten und dem Standort des Kardiologen. RPM, Fernbehandlung des Patienten; UC, übliche Behandlung. Die schwarzen Linien stellen das Ratenverhältnis (Tafel a: primärer Endpunkt) und die Hazard Ratios (Tafeln b und c: wichtige sekundäre Endpunkte) dar. Die entsprechenden 95 %-Konfidenzintervalle sind durch blau schattierte Bereiche gekennzeichnet. Die grün gepunktete Linie zeigt die Gleichheitslinie an. Wie dargestellt, hängen die Behandlungseffekte von der individuellen Entfernung in Kilometern (km) zwischen dem Wohnort des Patienten und dem Kardiologen ab. Zur Veranschaulichung wurde die Entfernung bei 100 km abgeschnitten, während die geschätzten Kurven auf dem gesamten beobachteten Bereich basieren. © Kerwagen et al, The Lancet Regional Health – Europa, 2025, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321

Berlin / Hamburg / Würzburg. Bereits im Jahr 2018 zeigte die im Fachmagazin The Lancet veröffentlichte Studie TIM-HF2 (Telemedical Interventional Management in Heart Failure II), dass durch telemedizinische Unterstützung das Leben von Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz in Deutschland verlängert und die Zahl der Wiedereinweisungen in Krankenhäuser reduziert werden kann. Die Ergebnisse der kontrollierten multizentrischen Versorgungsforschungsstudie unter der Leitung von Prof. Dr. Friedrich Köhler vom Deutschen Herzzentrum der Charité (DHZC) haben maßgeblich dazu beigetragen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) im Jahr 2020 die telemedizinische Versorgung von Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Herzschwäche in die ambulante Versorgung der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen hat.

Telemonitoring wirkt unabhängig von der Pumpfunktion

Dass nicht nur Patientinnen und Patienten mit deutlich eingeschränkter linksventrikulärer Pumpfunktion (LVEF) von diesem gesetzlichen Versorgungsanspruch einen Vorteil haben, zeigt eine sogenannte prästratifizierte Sekundärauswertung der Studie, die das DHZC gemeinsam mit dem Deutschen Zentrum für Herzinsuffizienz Würzburg (DZHI) und dem Institut für Biometrie und Epidemiologie des Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (IMBE) im Juni 2023 im European Journal of Heart Failure veröffentlichte. Denn auch Patientinnen und Patienten mit erhaltener Pumpfunktion (kurz „HFpEF“ für Heart Failure with preserved Ejection Fraction) oder nur leicht reduzierter Pumpfunktion (kurz „HFrEF“ für Heart Failure with reduced Ejection Fraction) profitierten von der Rund-um-die-Uhr-Fernüberwachung. „Unsere Studienergebnisse haben unter anderem dazu geführt, dass die Bundesärztekammer und der Verband der Privaten Krankenversicherung eine Abrechnungsempfehlung für den Einsatz von Telemonitoring vereinbart haben, und zwar auch bei diastolischer Herzinsuffizienz“, berichtet Friedrich Köhler.

Doch wie funktioniert eine telemedizinische Betreuung? Im Rahmen der TIM-HF2-Studie übertrugen zum Beispiel spezielle mit Sensoren ausgestattete Messgeräte täglich Gesundheitswerte wie EKG, Sauerstoffsättigung, Blutdruck und Körpergewicht von Herzinsuffizienz-Patientinnen und -Patienten aus ganz Deutschland drahtlos an das Telemedizinische Zentrum (TMZ) am DHZC. Das TMZ-Team, bestehend aus Ärztinnen und Ärzten sowie spezialisierten Herzinsuffizienz-Pflegekräften, reagierte sofort auf auffällige Messwerte und konnte die Therapie frühzeitig anpassen.

Wer profitiert am meisten von der Telemedizin? Patienten auf dem Land, in der Stadt, oder die mit einem langen Weg zum Kardiologen?

In einer weiteren Auswertung der TIM-HF2 Studiendaten wurden nun die Auswirkungen der Telemedizin unter drei neuen Gesichtspunkten untersucht: Wo praktiziert der Kardiologe? Wo wohnt der Patient? Und wie lang ist der Weg vom Wohnort zur kardiologischen Praxis? Also, wer profitiert am meisten von der Telemedizin – Patienten auf dem Land, in der Stadt, oder mit einer langen Autofahrt zum Kardiologen? Als Vergleich diente die Gruppe, die ohne telemedizinische Betreuung behandelt wurde.

„Die gute Nachricht ist zunächst, dass es bei der kardiologischen Behandlung keinen signifikanten Unterschied macht, ob die Patientinnen und Patienten auf dem Land oder in der Stadt leben. Die Behandlungsqualität ist in Praxen und Kliniken auf dem Land genauso gut wie in Großstädten“, erklärt Erstautor Dr. Fabian Kerwagen, Clinician Scientist am Uniklinikum Würzburg (UKW). Als Großstadt wurde eine Stadt mit mehr als 200.000 Einwohnern oder einer Universitätsklinik definiert. Von größerer Relevanz war jedoch die Wegstrecke. „Wir sehen, dass die individuelle Entfernung zwischen Wohnort und Praxis einen deutlichen Unterschied macht: Je weiter die Patientinnen und Patienten von ihrer kardiologischen Praxis entfernt wohnten, desto mehr profitierten sie von der telemedizinischen Betreuung“, so Kerwagen. Um die Entfernung zu berechnen wurde für sämtliche 1538 Studienteilnehmenden die schnellste Route mit dem Auto ermittelt.

Je weiter entfernt die Menschen wohnten, desto geringer war die Mortalität bei telemedizinischer Betreuung

Es ist bekannt, dass es in ländlichen Regionen die Häufigkeit kardiovaskulärer Erkrankungen, aber auch die kardiovaskulär bedingte Sterblichkeit höher ist. In Städten liegt die durchschnittliche Eintreffzeit des Rettungsdienstes oft unter zehn Minuten – auf dem Land kann sie 20 Minuten und mehr betragen. Das klare Ergebnis und die signifikanten Auswirkungen der Telemedizin auf die Gesundheit dieser Gruppe mit langen Anfahrtswegen hat das Studienteam dennoch überrascht. So zeigt ein Diagramm der Studie, die jetzt im Fachmagazin „Lancet Regional Health–Europe“ veröffentlicht wurde: Je weiter entfernt die Menschen wohnten, desto größer war der durch die telemedizinische Betreuung vermittelte günstige Effekt auf Sterblichkeit und Hospitalisierungshäufigkeit.

Telemedizin kann medizinische Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse sicherstellen

Stefan Störk, Leiter der Herzinsuffizienz-Ambulanz und Klinischen Forschung am DZHI, freut sich, dass sie mit dieser Studie erstmals den positiven Effekt der Telemedizin auf ihre weiter entfernt lebenden Patientinnen und Patienten zeigen konnten: „Telemedizin kann durchaus eine Brücke bauen und dazu beitragen, den Versorgungsnachteil von Menschen, die weit entfernt von einer kardiologischen Praxis wohnen, auszugleichen.“ Der Kardiologe und sein Team setzen sich schon lange für den digitalen Versorgungsansatz ein. Schließlich erfordert das komplexe Krankheitsbild der Herzinsuffizienz eine umfassende Betreuung. Entsprechend groß war die Resonanz, als Stefan Störk als korrespondierender Autor der Studie die Ergebnisse der Sekundärauswertung am 18. Mai 2025 in der Late Breaking Science Session auf dem diesjährigen Heart Failure Congress der European Society of Cardiology (ESC) in Belgrad (Serbien) vorstellte.

Durch Data-Sharing konnten 18 Paper nach der Primärpublikation erstellt werden

Friedrich Köhler ist mit gutem Grund stolz auf seine TIM-HF2-Studie, die einst vom Bundesministerium für Forschung, Technologie und Raumfahrt (BMFTR) unterstützt wurde. „Öffentlich geförderte Projekte verlangen Data-Sharing”, so Köhler. „Indem wir unsere Daten geteilt haben, konnten nach der primären Publikation in verschiedenen Kooperationen bisher 18 Paper veröffentlicht werden, deren Ergebnisse die Gesundheitsversorgung und die Lebensqualität vieler Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz maßgeblich beeinflussen.“


Publikation:
Fabian Kerwagen, Stefan Störk, Kerstin Koehler, Eik Vettorazzi, Maximilian Bauser, Jasmin Zernikow, Gina Barzen, Meike Hiddemann, Jan Gröschel, Michael Gross, Christoph Melzer, Karl Stangl, Gerhard Hindricks, Friedrich Koehler, Sebastian Winkler, Sebastian Spethmann. Rurality, travel distance, and effectiveness of remote patient management in patients with heart failure in the TIM-HF2 trial in Germany: a pre-specified analysis of an open-label, randomised controlled trial. The Lancet Regional Health - Europe, 2025, 101321, ISSN 2666-7762, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321

Text: Wissenschaftskommunikation UKW / KL
 

Die drei Autoren der Studie stehen in Anzügen vor der Bühne des HFA Kongresses.
Stefan Störk, Fabian Kerwagen und Friedrich Köhler (v.l.n.r.) stellten die aktuelle Studie am 18. Mai 2025, beim Heart Failure Congress der European Society of Cardiology in Belgrad vor. © privat
Patientin, die daheim am Wohnzimmertisch sitzt, misst ihren Blutdruck
Spezielle mit Sensoren ausgestattete Messgeräte übertragen die Gesundheitswerte der Herzinsuffizienz-Patientinnen und -Patienten täglich drahtlos an das Telemedizinzentrum der Charité – Universitätsmedizin Berlin, sodass auf auffällige Messwerte sofort reagiert und die Therapie frühzeitig angepasst werden kann. © DZHC
Karte aus der Publikation mit Vergrößerung der Region rund um Würzburg
Verteilung der Kardiologen und Patienten in Deutschland und exemplarisch für Würzburg. Die Karte veranschaulicht die Verteilung von Kardiologen und Patienten über Deutschland, einschließlich der Anfahrtswege für jeden Patienten. Das Beispiel Würzburg zeigt, dass Patienten aus verschiedenen Bezirken (Bezirksgrenzen innerhalb Unterfrankens sind mit dünnen weißen Linien dargestellt) und aus einem anderen Bundesland (Landesgrenzen sind mit dicken weißen Linien dargestellt) in Würzburg behandelt wurden. RPM = remote patient management, UC = Usual Care. © Kerwagen et al, The Lancet Regional Health – Europa, 2025, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321
Drei Grafiken aus der Publikation
Primäre und wichtige sekundäre Endpunkte nach der Entfernung zwischen dem Wohnort des Patienten und dem Standort des Kardiologen. RPM, Fernbehandlung des Patienten; UC, übliche Behandlung. Die schwarzen Linien stellen das Ratenverhältnis (Tafel a: primärer Endpunkt) und die Hazard Ratios (Tafeln b und c: wichtige sekundäre Endpunkte) dar. Die entsprechenden 95 %-Konfidenzintervalle sind durch blau schattierte Bereiche gekennzeichnet. Die grün gepunktete Linie zeigt die Gleichheitslinie an. Wie dargestellt, hängen die Behandlungseffekte von der individuellen Entfernung in Kilometern (km) zwischen dem Wohnort des Patienten und dem Kardiologen ab. Zur Veranschaulichung wurde die Entfernung bei 100 km abgeschnitten, während die geschätzten Kurven auf dem gesamten beobachteten Bereich basieren. © Kerwagen et al, The Lancet Regional Health – Europa, 2025, https://doi.org/10.1016/j.lanepe.2025.101321

Vom Bluthochdruck geheilt

CHIRACIC-Studie zeigt überraschend positive Ergebnisse auf den Blutdruck nach operativer Entfernung eines einseitigen Nebennieren-Zufalltumors mit leicht erhöhter Kortisolproduktion

Die beiden Wissenschaftler posieren vor einer Stellwand beim Kongress der ESPE und ESE mit Logos
Prof. Martin Fassnacht (links) und Prof. Antoine Tabarin präsentierten ihre aktuelle Studie beim Gemeinsamen Kongress der European Society for Paediatric Endocrinology (ESPE) und European Society of Endocrinology (ESE) im Mai 2025 in Kopenhagen. © privat
MRT-Aufnahme eines Nebennierentumors - ein roter Pfeil zeigt auf den Tumor
Das MRT zeigt einen drei Zentimeter großen Nebennierentumor auf der rechten Seite. Drei Prozent der über 50-Jährigen und zehn Prozent der über 80-Jährigen haben Nebennieren-Zufallstumore, die meist bei einer bildgebenden Untersuchung des Bauchraums entdeckt werden. © UKW

Würzburg. Ein Schwerpunkt der Endokrinologie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) sind bösartige Tumoren der Nebenniere. Für die Diagnose, Behandlung und Erforschung des seltenen, aber äußerst aggressiven Nebennierenkarzinoms hat sich das UKW als internationales Referenzzentrum etabliert. Bei eindeutig gutartigen Tumoren der Nebenniere ging es jahrelang laut Prof. Dr. Martin Fassnacht, Leiter des Würzburger Lehrstuhls für Endokrinologie und Diabetologie, vor allem darum, die wenigen Patientinnen und Patienten herauszufiltern, die massiv unter der vom Tumor verursachten Überproduktion bestimmter Hormone leiden. „Diese Krankheitsbilder wie das Cushing- oder Conn-Syndrom oder Phäochromozytome sind aber ebenfalls sehr selten. Bei der Mehrheit der Patientinnen und Patienten mit Nebennierentumoren ging es uns darum, niemanden unnötig krank zu machen", sagt Fassnacht mit Blick auf einen relevanten Anteil der Bevölkerung über 50 Jahre.

Risiken des Nebennieren-Zufallstumors mit erhöhter Kortisol-Produktion

Denn drei Prozent der über 50-Jährigen und zehn Prozent der über 80-Jährigen haben Nebennieren-Zufallstumore, auch Nebennieren-Inzidentalom genannt. Diese Tumoren werden per Definition zufällig bei einer bildgebenden Untersuchung des Bauchraums entdeckt, zum Beispiel bei Gallenbeschwerden, Verdacht auf Nierensteine oder Rückenschmerzen. Weniger als zehn Prozent dieser Nebennieren-Zufallstumore sind bösartig, weitere zehn Prozent führen zu einem starken Hormonüberschuss, die restlichen 80 Prozent wurden lange Zeit zur Gruppe der klinisch hormoninaktiven Tumoren gezählt. „Schon länger war allerdings bekannt, dass fast jeder Zweite aus dieser Gruppe eine leicht erhöhte Produktion des Hormons Kortisol aufweist. Ob dieser leichte Kortisolüberschuss krank macht, war unklar“, berichtet Martin Fassnacht. Der Endokrinologe schätzt, dass circa eine halbe Million Bundesbürgerinnen und Bundesbürger betroffen sein dürften.

Dass diese leicht erhöhte Kortisolproduktion nicht so harmlos ist, wie er einst dachte, zeigte Fassnacht bereits in einer internationalen, multizentrischen Studie, die er 2014 selbst initiierte und deren überraschende Ergebnisse er im Jahr 2022 in der Fachzeitschrift The Lancet Diabetes & Endocrinology publizierte: Bei mehr als 3.500 Betroffenen mit Nebennieren-Inzidentalom war damals eine erhöhte Kortisolausschüttung mit vermehrten Herz-Kreislauf-Erkrankungen und einer erhöhten Sterblichkeit assoziiert, vor allem bei Frauen unter 65 Jahren. „Seitdem wir das wissen, achten wir natürlich verstärkt auf unsere Patientinnen und Patienten mit gutartigen Nebennierentumoren und prüfen mit dem Dexamethason-Test, ob eine erhöhte Kortisolproduktion und damit ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes vorliegt“, sagt Fassnacht.

CHIRACIC bewertet Auswirkungen der Entfernung des Inzidentaloms auf den Bluthochdruck

Dennoch blieb unklar, ob der Tumor operativ entfernt werden soll oder nicht? Prof. Antoine Tabarin, Leiter der Endokrinologie am Universitätsklinikum Bordeaux in Frankreich, initiierte deshalb die Interventionsstudie CHIRACIC, in der die Auswirkungen der chirurgischen Entfernung des Inzidentaloms auf den Blutdruck untersucht wurde.

Insgesamt wurden 78 Patientinnen und Patienten an 17 Universitätskliniken in Frankreich, Deutschland und Italien rekrutiert, wobei das Universitätsklinikum Würzburg (UKW) nach Bordeaux das zweitgrößte Studienzentrum war. Die Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer mussten über einen Zeitraum von bis zu knapp zwei Jahren alle vier Wochen an fünf Tagen jeweils dreimal morgens und dreimal abends ihren Blutdruck messen. Vor der Randomisierung, also der Zuteilung zu den Studiengruppen nach dem Zufallsprinzip, wurden alle Teilnehmenden mit standardisierten Medikamenten auf einen „idealen Blutdruck“ von 125 zu 80 eingestellt.
Dabei stellte sich heraus, dass zehn Prozent der Rekrutierten bei den Messungen daheim gar keinen Bluthochdruck hatten. „Die hätten wir völlig unnötig behandelt“, sagt Fassnacht. Das Blutdruckmanagement sei in der methodisch starken Studie ohnehin supergenau und absolut lehrreich gewesen. Insgesamt 52 Personen kamen letztendlich für die Studie in Frage. Die eine Hälfte erhielt eine Nebennierenresektion, die andere weiter die medikamentöse Therapie.

Überraschend eindeutige Ergebnisse im Journal Lancet Diabetes & Endocrinology veröffentlicht

Die geringe Probandenzahl sei sicherlich eine Schwäche dieser zeitaufwändigen Studie - die „schockierend“ eindeutigen Ergebnisse, die jetzt ebenfalls im Journal The Lancet Diabetes & Endocrinology veröffentlicht wurde, seien aber hoch signifikant und veränderten die Situation grundlegend, so Fassnacht, der auch zu Beginn dieser Studie skeptisch war und entsprechend vom Ergebnis überrascht wurde. „Aber das sind eben die wissenschaftlich interessantesten Studien“, schmunzelt Fassnacht.

Studie hat Sicht auf Krankheit maßgeblich verändert

Im Schnitt führte die Operation dazu, dass die Anzahl der Blutdruckmedikamente von 3 auf 0,8 reduziert werden konnte. Und selbst die Reduktion um ein Medikament sei für einige Betroffene ein Vorteil, zumal der Blutdruck mit zunehmendem Alter automatisch weiter ansteige und mehr Medikamente benötigt würden. Fassnacht, der sich mit Philippe Gosse die Letztautorenschaft teilt, resümiert: „Dass wir in der Studie bei einem relevanten Teil der operierten Patientinnen und Patienten, nämlich bei etwa der Hälfte, für perfekte Blutdruckwerte nun gar keine Medikamente mehr benötigen, gewissermaßen den Blutdruck geheilt haben, hat meine Sicht auf diese Krankheit entscheidend verändert“. Das UKW bietet inzwischen allen Menschen mit gutartigem Nebennierentumor und einer Kortisolüberproduktion zumindest die Operation als potentiell sehr gute Therapieoption an.

Publikation: 
Antoine Tabarin, Stéphanie Espiard, Timo Deutschbein, Laurence Amar, Delphine Vezzossi, Guido Di Dalmazi, Yves Reznik, Jacques Young, Rachel Desailloud, Bernard Goichot, Delphine Drui, Guillaume Assié, Hervé Lefebvre, Knut Mai, Frédéric Castinetti, Sandrine Laboureau, Massimo Terzolo, Amandine Ferriere, Aurore Georget, Eric Frison, Marie-Christine Vantyghem, Martin Fassnacht & Philippe Gosse, and the CHIRACIC Collaborators. Surgery for the treatment of arterial hypertension in patients with unilateral adrenal incidentalomas and mild autonomous cortisol secretion (CHIRACIC): a multicentre open-label superiority randomized controlled trial. The Lancet Diabetes & Endocrinology. Published Online May 12, 2025. doi.org/10.1016/ S2213-8587(25)00062-2

Text: KL / Wissenschaftskommunikation
 

Die beiden Wissenschaftler posieren vor einer Stellwand beim Kongress der ESPE und ESE mit Logos
Prof. Martin Fassnacht (links) und Prof. Antoine Tabarin präsentierten ihre aktuelle Studie beim Gemeinsamen Kongress der European Society for Paediatric Endocrinology (ESPE) und European Society of Endocrinology (ESE) im Mai 2025 in Kopenhagen. © privat
MRT-Aufnahme eines Nebennierentumors - ein roter Pfeil zeigt auf den Tumor
Das MRT zeigt einen drei Zentimeter großen Nebennierentumor auf der rechten Seite. Drei Prozent der über 50-Jährigen und zehn Prozent der über 80-Jährigen haben Nebennieren-Zufallstumore, die meist bei einer bildgebenden Untersuchung des Bauchraums entdeckt werden. © UKW

Wie und warum entstehen psychische Störungen?

Auf dem 4. Gemeinsamen Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP) und der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) erhielt Prof. Dr. Lorenz Deserno am 8. Mai 2025 in Berlin den mit 5.000 Euro dotierten Nachwuchsforschungspreis der DGBP und der Stiftung Nervenheilkunde. Deserno, der seit 2020 die W2-Professur für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) innehat, teilt sich den Preis mit Dr. Frederike Stein von der Philipps-Universität Marburg.

Porträtfoto von Lorenz Deserno, der ein dunkles Jacket und blaues Jeanshemd trägt.
Lorenz Deserno, Professor für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) erhielt den Nachwuchsforschungspreis 2025 der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie und der Stiftung Nervenheilkunde. © Daniel Peter / UKW
Vertreter der DGBP und Preisträger stehen auf der Bühne und lächeln für die Fotografen
Prof. Dr. Tilo Kircher (links), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP), und Prof. Dr. Jürgen Deckert (rechs), Schatzmeister der DGBP, gratulieren Prof. Dr. Lorenz Deserno zum Nachwuchsforschungspreis 2025. © Jens Wiltfang / Tilo Kircher

Würzburg. Bereits gegen Ende seines Medizinstudiums entwickelte Lorenz Deserno ein besonderes Interesse an der Hirnforschung bei psychischen Erkrankungen. Spätestens seit seiner Promotion über kognitive Defizite bei Patientinnen und Patienten mit Schizophrenie ist seine Forschung fest in der biologischen Psychiatrie verankert. Dieses Teilgebiet der Psychiatrie untersucht, wie biologische Veränderungen mit psychischen Erkrankungen zusammenhängen. Prof. Dr. Lorenz Deserno geht zum Beispiel am Zentrum für Psychische Gesundheit (ZEP) des Universitätsklinikums Würzburg (UKW) der Frage nach, wie sich bestimmte Denk- und Handlungsweisen in den Aktivierungsmustern des Gehirns widerspiegeln und verfolgt dabei einen transdiagnostischen entwicklungspsychiatrischen Ansatz mit dem er unterschiedliche Erkrankungsbilder wie ADHS, Schizophrenie, Alkoholabhängigkeit, Essstörungen sowie zuletzt auch Angststörungen und Depression untersucht und vergleicht. Dazu nutzt er funktionelle Bildgebung und Methoden der sogenannten Computational Psychiatry.

Erforschung menschlichen Verhaltens und kognitiver Prozesse mit Hilfe der Computational Psychiatry

Computational Psychiatry verbindet Erkenntnisse aus der Psychiatrie, den Neurowissenschaften, der Informatik, der Mathematik und den Kognitionswissenschaften, um die komplexen Mechanismen des Gehirns und des Verhaltens bei psychischen Erkrankungen zu beschreiben. Während dieser Ansatz in den letzten Jahren viel Beachtung und Anerkennung gefunden hat, gibt es nur wenige Arbeitsgruppen, die diesen Forschungsansatz in der Entwicklungspsychiatrie anwenden.

Desernos Arbeiten haben beispielsweise zu einem neuen Verständnis des populären Neurotransmitters Dopamin beigetragen. Dieser ist nicht nur an der Verarbeitung von Belohnungen beteiligt, sondern steuert auch die gezielte Planung von Handlungen, um Belohnungen zu erhalten. Weiterhin konnte er mit seinem Team durch spezifische Modellierungen herausfinden, dass inkonsistente Entscheidungen keineswegs als Messfehler anzusehen sind, sondern dass eine altersabhängige Zunahme spezifischer und komplexer kognitiver Prozesse mit einer Abnahme dieser „verrauschten“ inkonsistenten Entscheidungen einhergeht und sogar davon abhängt. Darüber hinaus konzentriert sich sein Team auf die Anwendung in Studiendesigns mit potenzieller klinischer Relevanz, zum Beispiel zur Vorhersage der Wirksamkeit von Psychopharmaka bei ADHS in einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Studie.

Nachwuchsforschungspreis der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP) und der Stiftung Nervenheilkunde

Auf der 4. gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP) und der Arbeitsgemeinschaft für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie (AGNP) wurden seine bisherigen Forschungsleistungen nun mit dem Nachwuchsforschungspreis der DGBP und der Stiftung Nervenheilkunde ausgezeichnet. Deserno teilt sich den mit 5.000 Euro dotierten Preis mit Dr. Frederike Stein von der Philipps-Universität Marburg.

Die Auszeichnung ist für ihn in mehrfacher Hinsicht bedeutsam: „Sie würdigt meinen bisherigen Werdegang, in dem ich durch die Kombination von wissenschaftlicher und klinischer Tätigkeit meine eigenständige Arbeitsgruppe aufgebaut habe, und sie stärkt mich persönlich in einer entscheidenden Phase meiner Karriere und Etablierung innerhalb der deutschsprachigen biologisch-psychiatrischen Forschungsgemeinschaft. Aus meiner Sicht ist die entwicklungspsychiatrische und neurowissenschaftliche Forschungsperspektive mit Methoden der ‚Computational Psychiatry‘ für die Beantwortung klinisch relevanter Forschungsfragen in der biologisch-psychiatrischen Forschung extrem aufschlussreich“.

Psychische Störungen besser verstehen, diagnostizieren und behandeln

Mit biologisch realistischen Methoden des „Computational Imaging“ und durch mobile Messungen im Alltag will Lorenz Deserno der Entstehung psychiatrischer Symptome weiter auf den Grund gehen. Wie und warum entstehen bestimmte Störungen auf der Ebene von Hirnprozessen, Informationsverarbeitung und Lernen? Welche Faktoren erhöhen das Risiko für psychische Störungen oder schützen davor? Seine Erkenntnisse sollen helfen, bestehende Behandlungen zu verbessern und neue, auch digitale Therapien zu entwickeln.

Werdegang von Lorenz Deserno
Lorenz Deserno wurde 1985 in Frankfurt am Main geboren und studierte von 2005 bis 2012 Humanmedizin an der Charité - Universitätsmedizin Berlin. In seiner preisgekrönten Doktorarbeit untersuchte er kognitive Defizite bei Schizophrenie mittels funktioneller Bildgebung. Nach seiner Approbation als Arzt arbeitete er zunächst wissenschaftlich an der Charite Universitätsmedizin Berlin und dann am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Dort beschäftigte er sich zunehmend mit impulsivem Verhalten, wie es zum Beispiel bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), bei Substanzmissbrauch und bei Essanfällen mit Kontrollverlust auftritt. Es zeigte sich, dass viele dieser Verhaltensweisen ihre Wurzeln in der Kindheit der Betroffenen haben, was Lorenz Deserno in die Kinder- und Jugendpsychiatrie führte. Seine klinische Weiterbildung in Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie begann er 2016 in Leipzig, die er später am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) abschloss. Von 2018 bis 2020 vertiefte er am University College London am Max Planck UCL Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research seine methodischen Kenntnisse auf dem noch jungen interdisziplinären Gebiet der ‚Computational Psychiatry‘. Im Jahr 2020 nahm Deserno einen Ruf nach Würzburg auf die neu geschaffene W2-Professur für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie an der Kinder- und Jugendpsychiatrie des UKW an. Deserno hat zwei Kinder (*2019, *2023) für die er jeweils sechs Monate Elternzeit im ersten Lebensjahr nahm.

Text: KL / Wissenschaftskommunikation

Porträtfoto von Lorenz Deserno, der ein dunkles Jacket und blaues Jeanshemd trägt.
Lorenz Deserno, Professor für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) erhielt den Nachwuchsforschungspreis 2025 der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie und der Stiftung Nervenheilkunde. © Daniel Peter / UKW
Vertreter der DGBP und Preisträger stehen auf der Bühne und lächeln für die Fotografen
Prof. Dr. Tilo Kircher (links), Präsident der Deutschen Gesellschaft für Biologische Psychiatrie (DGBP), und Prof. Dr. Jürgen Deckert (rechs), Schatzmeister der DGBP, gratulieren Prof. Dr. Lorenz Deserno zum Nachwuchsforschungspreis 2025. © Jens Wiltfang / Tilo Kircher

Virtuelle Begleiter gegen reale Ängste

ANWESENHEIT VIRTUELLER CHARAKTERE MIT BESTIMMTEN EIGENSCHAFTEN KANN KÖRPERLICHE ANGSTREAKTIONEN ABMINDERN

Eine aktuelle Kooperationsstudie der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik und dem Lehrstuhl für Mensch-Computer Interaktion der Universität Würzburg zeigt, dass virtuelle Charaktere Angstreaktionen deutlich abmildern können, vorausgesetzt sie haben eine soziale Relevanz. Neben einer gleichgeschlechtlichen virtuellen Figur entfaltete auch eine einfache Holzpuppe eine beruhigende Wirkung, wenn sie als empathischer Partner wahrgenommen wurde. Die im Fachjournal Computers in Human Behavior veröffentlichten Ergebnisse eröffnen neue Perspektiven für den gezielten Einsatz virtueller Charaktere in digitalen Gesundheitsanwendungen.

 

die Collabe zeigt oben zwei Bilder vom virtuellen Labor, links Vogelperspektive, rechts zwei leere Stühle, unten sind vier Bilder von einzelnen Charakteren, die mit dem Rücken zum Betrachter gewandt sind.
Die Verkörperungen der im Experiment verwendeten virtuellen Figur. Oben Ansichten vom leeren Raum, unten v.l.n.r.: Wolke, Holzfigur, weiblich, männlich. Im ersten Versuch wurden die Probandinnen mit einem neutralen Klang konfrontiert, im zweiten Versuch mit einem aversiven Geräusch. © Weiß, Krop et al., Computers in Human Behavior, 2025.
Zwei Bildausschnitte aus dem VR-Labor nebeneinander, VR-Frau und Holzfigur Woody sitzen mit dem Rücken dem Betrachter zugewandt in der schallisolierten VR-Kabine.
Als die Holzfigur Woody eine soziale Bedeutung erhielt, hatte sie einen ähnlich signifikanten Social Buffering Effekt auf die Probandinnen wie die virtuelle Frau und wirkte beruhigend. © Weiß, Krop et al., Computers in Human Behavior, 2025.

Würzburg. Du bist nicht allein. Ob bei Menschen oder Tieren - die Nähe zu Artgenossen kann in Angstsituationen beruhigend wirken. Dieser als Social Buffering bezeichnete Mechanismus wurde ursprünglich in der Tierforschung entdeckt. Selbst Zebrafische zeigen in Gegenwart von Artgenossen weniger Angstverhalten (Faustino et al., Scientific Reports, 2017). Dabei spielt die Größe des sichtbaren Schwarms keine Rolle. Schon der Sichtkontakt zu einzelnen Artgenossen in benachbarten Aquarien können bedrohliche Reize, in diesem Fall ausgelöst durch eine Alarmsubstanz im Wasser, abschwächen. Prof. Dr. Grit Hein, Professorin für Translationale Neurowissenschaften am Uniklinikum Würzburg (UKW), ließ sich von diesem einfachen Versuchsaufbau mit beeindruckendem Ergebnis inspirieren und untersuchte mit ihrem Team, ob der Effekt der bloßen sozialen Anwesenheit auch beim Menschen messbar ist, zunächst in der realen Welt und in einer aktuellen Studie in der virtuellen Welt. 

„Soziale Interaktionen finden heute oft virtuell statt, aber die Auswirkungen von Social Buffering in der virtuellen Welt sind noch wenig bekannt“, erklärt Grit Hein. 

Anwesenheit eines Artgenossen kann autonome Reaktionen auf aversive Reize abschwächen

Zunächst zum Studiensetting in der realen Welt, welches in Vorgängerstudien (Qi Y et al., Proc Biol Sci, 2020 und Qi Y et al., Translational Psychiatry, 2021) verwendet wurde: Die Studienteilnehmerinnen befanden sich in einer schallisolierten Kabine und hörten angsteinflößende Schreie, sowohl allein als auch in Anwesenheit einer realen Person. Neben den emotionalen Bewertungen wurde auch der so genannte Hautleitwert untersucht und damit das autonome Angstmaß bestimmt, also die Aktivität des peripheren Nervensystems - übrigens ein Wert, der nicht beeinflusst werden kann und deshalb auch oft in der Lügendetektion eingesetzt wird. Wenn wir aversiven Reizen ausgesetzt sind, also Reizen, die unangenehm, schmerzhaft, angst- oder stressauslösend sind, werden unsere Schweißdrüsen aktiviert. Die Haut wird feuchter, ihre Leitfähigkeit verändert sich, der Hautleitwert steigt. 
Es zeigte sich, dass die bloße Anwesenheit einer realen Person die autonome Reaktion auf den aversiven Reiz abschwächen und den Hautleitwert senken kann. Wobei die Personen, die eher sozial ängstlich sind, wie erwartet weniger von der Anwesenheit einer realen Person profitierten. Anders in der virtuellen Welt. 

Angst auslösende Geräusche allein oder in Anwesenheit eines virtuellen Charakters mit unterschiedlichem Grad an menschenähnlichen Eigenschaften

Um ein vergleichbares virtuelles Setting zu haben, kooperierte Hein mit dem Team von Prof. Dr. Marc Erich Latoschik am Lehrstuhl für Mensch-Computer-Interaktionen (HCI) am Center for Intelligence and Data Science (CAIDAS) der Julius-Maximilians-Universität Würzburg (JMU). Die schalldichte Kabine wurde in der virtuellen Realität nachgebaut und von den weiblichen und männlichen Statisten aus dem realen Studiensetting wurden Ganzkörperscans angefertigt, so dass auch sie 1:1 in die virtuelle Welt übertragen werden konnten. Und tatsächlich zeigte sich in der Studie der Social Buffering-Effekt in der virtuellen Welt auch bei sozial ängstlicheren Personen. „Total verrückt“, sagt Grit Hein. „Den Testpersonen war bewusst, dass es sich um virtuelle Charaktere handelte, die sie durch die VR-Brille wahrnahmen, und trotzdem wirkten sie beruhigend auf sie, was sich an der Senkung des Hautleitwerts zeigte.“

Unheimlich menschlich: Vermeidung des Uncanny Valley-Effekts 

Das Team frage sich daraufhin: Wie menschlich muss ein virtueller Charakter idealerweise sein, damit er beruhigend wirkt und nicht ins Gegenteil umschlägt? Es gibt Forschungen, unter anderem von der Würzburger HCI-AG, die einen Fall in ein unheimliches Tal beschreiben, wenn ein künstliches Wesen zu menschlich aussieht, den so genannten Uncanny Valley-Effekt. Das heißt: Je menschlicher ein künstliches Wesen aussieht, desto sympathischer finden wir es - bis zu einem gewissen Punkt: Ist es zu menschenähnlich aber eben nicht perfekt genug, kann es unplausibel wirken und so Verwirrung, eine so genannte kognitive Dissonanz, sowie unangenehme oder gar beängstigende Gefühle auslösen. 
Und so kamen in der aktuellen Studie zu der weiblichen und der männlichen Figur noch zwei Charaktere mit unterschiedlichen menschenähnlichen Merkmalen hinzu: eine einfache gesichts- und geschlechtslose, hautfarbene Holzpuppe und eine Punktwolke mit den groben Umrissen eines menschlichen Körpers. Ferner wurden die Studienteilnehmerinnen den Schreien allein, ohne virtuelle Figur, ausgesetzt.

Social Buffering mit Social Framing: Gleichgeschlechtliche virtuelle Figur und Holzpuppe wirken beruhigend, wenn sie als soziale Partner wahrgenommen werden

Zur großen Überraschung des Studienteams zeigte Woody, wie die Holzpuppe intern genannt wurde, einen ähnlich signifikanten Social Buffering Effekt wie die virtuelle Frau, während der männliche Charakter eher den gegenteiligen Effekt hatte. Bei der Wolke gab es kein Social Buffering, die Ergebnisse waren vergleichbar mit einem leeren Raum. Auch das sei ein wichtiges Ergebnis, so Grit Hein. Denn es zeige, dass der Social Buffering-Effekt durch mehr als nur Ablenkung hervorgerufen werde.

Aber: Die Holzfigur mit menschenähnlichen Zügen funktionierte nur mit sozialer Bedeutung. Das heißt: Den Probandinnen wurde vorher gesagt, dass der virtuelle Charakter ein Alarmsignal empfangen könne, wenn es ihnen nicht gut geht. Ohne dieses so genannte Social Framing hatte Woody keine beruhigende Wirkung. „Ein menschenähnlicher Charakter kann also durchaus Stress und Ängste reduzieren, sofern er eine soziale Bedeutung hat“, fasst Grit Hein die Ergebnisse der Studie zusammen, die jetzt in der Fachzeitschrift „Computers in Human Behaviour“ veröffentlicht wurde. Diese Erkenntnisse seien vor allem für psychiatrische Patientengruppen interessant, deren Behandlung durch eine virtuelle Therapie ergänzt werden könnte. In einem nächsten Schritt müsse nun herausgefunden werden, wer bei welchem Krankheitsbild auf welchen Charakter anspricht. 

Nur zu wissen, dass ich die Situation verlassen kann, wie etwa mit einem Notfallknopf oder einem Notausgang, würde nicht ausreichen, das wäre zu abstrakt. „Ich brauche ein Gegenüber, was ich als ‚Rettungsanker‘ sehen kann und was mich nicht bewertet, wie eben Woody“, interpretiert Grit Hein die Ergebnisse. Der männliche Charakter habe bei den ausschließlich weiblichen Probandinnen diese Funktion anscheinend nicht erfüllt, obwohl er genau wie Woody oder der weibliche Charakter eingeführt wurde. 

„Unsere größte Erkenntnis war, dass unsere Angstreaktion nicht von der optischen Detailtreue eines virtuellen Charakters abhängt, sondern davon, ob wir ihn als echten sozialen Partner betrachten“, resümiert Dr. Martin Weiß, Postdoktorand in der Arbeitsgruppe für Translationale Soziale Neurowissenschaften am UKW und gemeinsam mit Philipp Krop Erstautor der Studie. „Selbst eine stilisierte Figur kann – wenn wir ihr diese Rolle zuschreiben – unsere physiologischen Furchtreaktionen wirksam abpuffern. Das macht virtuelle Interventionen gegen Angst, wie zum Beispiel virtuelle Agenten oder KI-basierte Lösungen, wesentlich einfacher und günstiger zugänglich“, ergänzt Philipp Krop, wissenschaftlicher Mitarbeiter am CAIDAS.

Relevant für medizinische und gesellschaftliche Apps

Die kooperative Forschung zwischen dem Würzburger Zentrum für Psychische Gesundheit (ZEP) und dem Lehrstuhl für Mensch-Computer-Interaktion (HCI) ist besonders relevant für den boomenden Markt der medizinischen Apps, die oft mit virtuellen Charakteren arbeiten und nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum (Trial and Error) entwickelt werden. Wem folgen wir am liebsten auf dem Weg zu einem gesunden Lebensstil? Wer motiviert uns zu täglichen Übungen? Wem vertrauen wir unsere Ängste und Sorgen an? „Mit unserer Art der Forschung können wir diese medizinischen Anwendungen auf empirische Füße stellen“, sagt Grit Hein. Die Basis ist gelegt, in weiteren Experimenten sollen die Charaktere mit weiteren Eigenschaften aufgeladen werden, etwa mit der Fähigkeit, soziale Signale auszusenden.

Publikation:
Martin Weiß, Philipp Krop, Lukas Treml, Elias Neuser, Mario Botsch, Martin J. Herrmann, Marc Erich Latoschik, Grit Hein. The buffering of autonomic fear responses is moderated by the characteristics of a virtual character. Computers in Human Behavior. Volume 168, 2025, 108657, ISSN 0747-5632, https://doi.org/10.1016/j.chb.2025.108657

Vorgängerstudien in PubMed:
Qi Y, Herrmann MJ, Bell L, Fackler A, Han S, Deckert J, Hein G. The mere physical presence of another person reduces human autonomic responses to aversive sounds. Proc Biol Sci. 2020 Jan 29;287(1919):20192241. doi: 10.1098/rspb.2019.2241. Epub 2020 Jan 22. PMID: 31964306; PMCID: PMC7015327.
Qi Y, Bruch D, Krop P, Herrmann MJ, Latoschik ME, Deckert J, Hein G. Social buffering of human fear is shaped by gender, social concern, and the presence of real vs virtual agents. Transl Psychiatry. 2021 Dec 20;11(1):641. doi: 10.1038/s41398-021-01761-5. PMID: 34930923; PMCID: PMC8688413.

Text: KL / Wissenschaftskommunikation
 

die Collabe zeigt oben zwei Bilder vom virtuellen Labor, links Vogelperspektive, rechts zwei leere Stühle, unten sind vier Bilder von einzelnen Charakteren, die mit dem Rücken zum Betrachter gewandt sind.
Die Verkörperungen der im Experiment verwendeten virtuellen Figur. Oben Ansichten vom leeren Raum, unten v.l.n.r.: Wolke, Holzfigur, weiblich, männlich. Im ersten Versuch wurden die Probandinnen mit einem neutralen Klang konfrontiert, im zweiten Versuch mit einem aversiven Geräusch. © Weiß, Krop et al., Computers in Human Behavior, 2025.
Zwei Bildausschnitte aus dem VR-Labor nebeneinander, VR-Frau und Holzfigur Woody sitzen mit dem Rücken dem Betrachter zugewandt in der schallisolierten VR-Kabine.
Als die Holzfigur Woody eine soziale Bedeutung erhielt, hatte sie einen ähnlich signifikanten Social Buffering Effekt auf die Probandinnen wie die virtuelle Frau und wirkte beruhigend. © Weiß, Krop et al., Computers in Human Behavior, 2025.