Aktuelle Pressemitteilungen

Pan-Neurofascin Autoimmune Nodopathie - lebensbedrohlich, aber reversibel

Dr. Luise Appeltshauser vom Universitätsklinikum Würzburg (UKW) erhält beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurowissenschaften (DGKN) in Frankfurt den Junior-Preis der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM). Ausgezeichnet wird ihre Forschung zu Pan-Neurofascin-Antikörpern, die sich gegen Proteine des Ranvierschen Schnürrings richten, die Signalübertragung zwischen Nerven und Muskeln stören und innerhalb kurzer Zeit zu einem fulminanten Krankheitsverlauf führen.

Abbildung der Nervenfasern und in groß der Ranvierschen Schnürringe
Die mikroskopische Aufnahme zeigt eine Übersicht einer Spinalganglien-Kultur mit Nervenzellen (grün) und ihren Fortsätzen, den myelinisierten Axonen (cyan). In der Vergrößerung sieht man die Ranvier-Schnürringe mit Neurofascin-Protein (magenta). Links in der Vergrößerung sind reguläre Schnürringe dargestellt. In den beiden Vergrößerungen rechts sind Veränderungen dargestellt, nachdem die Nervenzellen den Patienten-Antikörpern ausgesetzt waren: Eine Zerstörung der Neurofascin-Struktur (Pfeil) mit Aufweitung der Schnürringe (oberes Bild) und eine Auftreibung und Zerstörung der Isolierschicht (unteres Bild). Maßstab der Übersichtsaufnahme: 100µm. © Luise Appeltshauser / UKW
Appeltshauser und Doppler im weißen Kittel im Labor der Neurologie
DGM-Preisträgerin Luise Appeltshauser (links) mit ihrer Arbeitsgruppenleiterin Kathrin Doppler im Labor der Neurologischen Klinik des Uniklinikums Würzburg. © UKW
4 Preisträger, davon Luise Appeltshauser auf dem Bildschirm
Die Preisträger und Preisträgerinnen der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke e.V.: v.l.n.r.: Dr. Christopher Nelke, Dr. Maike Dohrn, Dr. Luise Appeltshauser, PD Dr. Alberto Catanese . Da Luise Appeltshauser gerade Mutter geworden ist, nahm sie virtuell am Kongress teil. @ DGM

Würzburg. Ihre Forschung kommt vielleicht nicht der breiten Masse zugute, aber: „Wenn ich dazu beitragen kann, dass eine Patientin oder ein Patient wieder laufen, atmen und leben kann, dann hat sich mein Einsatz gelohnt“, sagt Dr. Luise Appeltshauser, Assistenzärztin an der Neurologischen Klinik und Poliklinik des UKW. Das fand auch die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke e.V. (DGM) und zeichnete sie für ihre publizierte Arbeit zum Thema „Pan-Neurofascin assoziierte autoimmune Nodopathie“ auf dem DGKN-Kongress für Klinische Neurowissenschaften am 8. März 2024 in Frankfurt am Main mit dem Junior-Preis aus. Der mit 2.500 Euro dotierte Preis fördert die Erforschung neuromuskulärer Erkrankungen.

Autoimmune Nodopathien: Wenn Antikörper die Nervenknoten angreifen

 Luise Appeltshauser hat sich auf Autoimmunerkrankungen des Nervensystems spezialisiert, insbesondere auf die Autoimmune Nodopathie, eine seltene und schwere neuromuskuläre Erkrankung, die erst seit zehn Jahren bekannt ist. Bei der Autoimmunen Nodopathie greifen Antikörper die Nervenknoten, die so genannten Ranvierschen Schnürringen, entlang der Nervenfasern an. Diese Ranvierschen Schnürringe sind eine Art Turboboost, die dafür sorgen, dass die Signale vom Gehirn entlang der Nervenfaser schnell und effizient zum Ziel gelangen. 

Proteine Neurofascin-186 und Neurofascin-155

An den Schnürringen befinden sich bestimmte Proteine, die von den Antikörpern attackiert werden. Nur wenige dieser Proteine sind bekannt. Luise Appeltshauser hat bereits während ihrer Doktorarbeit als Medizinstudentin in der Arbeitsgruppe von Privatdozentin Dr. Kathrin Doppler und leitender Oberärztin Prof. Dr. Claudia Sommer erstmals Antikörper gegen das Protein Caspr nachgewiesen. Im Fokus ihrer aktuellen Arbeit stehen nun die noch unerforschten Pan-Neurofascin-Antikörper. Diese Antikörper richten sich gegen die Proteine Neurofascin-186 und Neurofascin-155, die in der ultrakomplexen Struktur des Ranvierschen Schnürrings vorkommen. Luise Appeltshauser hat gemeinsam mit ihren Kolleginnen und den Doktorandinnen Helena Junghof und Julia Messinger Betroffene identifiziert, die klinischen Merkmale und das Therapieansprechen charakterisiert, den Pathomechanismus untersucht, also wie die Antikörper zur Schädigung führen, und neue Biomarker für die Diagnostik, den Verlauf und die Prognose ermittelt. 

Zerfetzte Ranviersche Schnürringe und fulminanter Krankheitsverlauf 

„Pan-Neurofascin-Antikörper können die Architektur der Schürringe regelrecht zerfetzen, was innerhalb weniger Wochen zu einem fulminanten Krankheitsverlauf führen kann“, erklärt die angehende Neurologin. „Häufig sind Männer im mittleren Alter betroffen. Die Betroffenen leiden unter Gefühlsstörungen und schweren Lähmungen der Gliedmaßen und Gesichtsnerven, können mitunter nicht mehr kommunizieren und müssen manchmal über Wochen und Monate künstlich beatmet werden. Komplikationen bei der Beatmung oder auch Herz-Rhythmusstörungen können dann sogar zum Tod führen.“ Das klinische Bild der Pan-Neurofascin-Autoimmun-Nodopathie unterscheide sich stark von den bereits bekannten Immun-Neuropathien. Die Diagnostik war bislang sehr schwierig, da keine Biomarker im Blut bekannt waren. Über den Antikörpernachweis lässt sich die Diagnose nun leicht stellen, ein weiterer Biomarker für den Verlauf kann der Gehalt an Neurofilament-Leichtketten im Serum sein. Eine frühzeitige Behandlung mit entsprechenden Medikamenten, die die Antikörper aus dem Blut eliminieren, sei aber immens wichtig, so Appeltshauser. Das Medikament Rituximab habe beispielsweise die Symptome erfolgreich reduziert und sogar zu Remissionen geführt. 

32 Patientinnen und Patienten mit Pan-Neurofascin-Autoimmun-Nodopathie

Luise Appeltshauser und ihre Kolleginnen erhalten inzwischen Serumproben aus ganz Deutschland, aber auch aus den USA und Australien, um die Antikörper zu bestimmen. In der Literatur sind bis dato nur 32 Patientinnen und Patienten mit Pan-Neurofascin-Autoimmun-Nodopathie beschrieben, inklusive der von den Würzburger Neurologinnen untersuchten Erkrankten. Sie vermuten aber, dass es mehr solcher Antikörper-assoziierter Immun-Neuropathien gibt. Ihre Ursachen sind noch unklar. Ein möglicher Auslöser für die fehlgeleiteten Antikörper könnten frühere Infektionen sein. Die Fragestellungen gehen jedenfalls nicht aus. 

Junior-Preis der DGM ist Ehre, Anerkennung, Rückenwind

„Der DGM-Junior-Preis gibt mir Rückenwind für zukünftige Forschungsprojekte“, freut sich Luise Appeltshauser. Er sei eine große Ehre und Anerkennung für die Zeit und das Herzblut, das sie in die Forschung gesteckt habe, und helfe bei weiteren Karriereschritten, zum Beispiel bei der Einwerbung von Drittmitteln und dem Aufbau einer eigenen Forschungsgruppe. Derzeit wird die Medizinerin vom Interdisziplinären Zentrum für Klinische Forschung (IZKF) der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg im Rahmen eines Habilitationsprogramms für Frauen gefördert. Zuvor war Luise Appeltshauser, die auch Sprecherin der Assistenzärztinnen und Assistenzärzte in der Neurologie am UKW ist, im Clinician Scientist-Programm des IZKF, das dem ärztlichen Nachwuchs neben der klinischen Ausbildung Freiräume für die Forschung gibt. Den Preis konnte sie aus gutem Grund nicht persönlich entgegennehmen: Vor vier Wochen hat Luise Appeltshauser ihr erstes Kind zur Welt gebracht. 

Über die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM): 
Die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) mit Sitz in Freiburg ist mit rund 10.000 Mitgliedern die größte und älteste deutsche Selbsthilfeorganisation für Menschen mit neuromuskulären Erkrankungen. Seit über 50 Jahren fördert die DGM die Erforschung der mehr als 800 verschiedenen heute bekannten, teilweise sehr seltenen Muskelerkrankungen. Eine wichtige Aufgabe der DGM ist auch die Beratung und Unterstützung von Betroffenen und ihren Angehörigen in ihrem Alltag. Über Muskelerkrankungen zu informieren und die Interessen von muskelerkrankten Menschen gesundheitspolitisch zu vertreten, sind weitere zentrale Anliegen der Selbsthilfeorganisation.

Originalarbeiten

Appeltshauser L, Junghof H, Messinger J, et al. Anti-pan-neurofascin antibodies induce subclass-related complement activation and nodo-paranodal damage. Brain. 2023 May 2;146(5):1932-1949.

Appeltshauser L, Doppler K. Pan-Neurofascin autoimmune nodopathy - a life-threatening, but reversible neuropathy. Curr Opin Neurol. 2023 Oct 1;36(5):394-401.

Hatte schon der Neandertaler eine Fettleber?

Was uns die Archäogenetik über Lebersteatose bei alten und modernen Menschen sagt – Publikation im Fachjournal Gut

 

Ein gemeinsames Forschungsprojekt der Universitätskliniken Würzburg (UKW) und Homburg (UKS) und des Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA) in Leipzig ermöglicht wichtige neue Einblicke in die evolutionären Grundlagen menschlicher Stoffwechselerkrankungen. Die relevanteste Genvariante, die für Fettlebererkrankungen verantwortlich ist, stammt aus der Zeit vor der Abspaltung vom Neandertaler. In alten Genomen dieser archaischen Menschen lag die Häufigkeit der Variante des PNPLA3-Gens bei 100 Prozent, möglicherweise aufgrund von Vorteilen bei der Kälteanpassung.

 

Grafik zur Evolution und Verbreitung der Fettleber-Genvariante
Vorhandensein der PNPLA3 rs738409-Genvariante bei modernen und archaischen Menschen, wobei die großen Menschenaffen die ursprüngliche Variante, den Wildtyp tragen. © UKW
Rekonstruktion von Neandertalern in einer Höhle
Rekonstruktion einer Neandertalergruppe. Was können uns archäogenetischen Erkenntnisse über die Lebersteatose bei alten und modernen Menschen sagen? © Johannes Krause, Neandertal group by Atelier Daynes, Paris, France. In: Museum of the Krapina Neanderthals, Krapina, Croatia. Project and realization of the Museum: Zeljko Kovacic and Jakov Radovcic.

Würzburg. Ein bisschen Fett ist ok. Wenn die Leber als zentrales Organ des Kohlenhydrat- und Fettstoffwechsels aber mehr Fett speichern muss, als sie abbauen kann, spricht man von einer Fettleber. 30 Prozent der modernen Bevölkerung sind von dieser sogenannten Steatose betroffen. „Und mit der Zahl der Übergewichtigen steigt die Zahl unserer Patientinnen und Patienten“, warnt Prof. Dr. Andreas Geier, Leiter der Hepatologie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW). Jeder Fünfte mit einer Fettleber erkrankt an einer Fettleberhepatitis. Die Entzündung kann zu schweren Vernarbungen - Fibrose und Zirrhose - sowie zu Krebs führen. Doch nicht nur Umweltfaktoren wie Überernährung und Bewegungsmangel, sondern auch genetische Veranlagungen können eine Fettleber verursachen.

DNA von 10.000 alten und modernen Menschen analysiert

Eine bekannte und relevante Rolle bei der Entwicklung einer Fettlebererkrankung spielt die häufige Variante rs738409 des PNPLA3-Gens (siehe Infokasten). Während die Variante in afrikanischen Ländern eher selten auftritt - in Kenia liegt die Häufigkeit bei 8 Prozent - tragen in Mesoamerika rund 70 Prozent das Risiko-Allel, Spitzenreiter ist Peru mit 72 Prozent. Wie kommt es zu dieser auffallend heterogenen globalen Präsenz des Risiko-Allels? Wo liegt der Ursprung der PNPLA3-Variante rs738409? Diese Fragen beschäftigten den anthroplogisch interessierten Andreas Geier schon länger. Er kontaktierte Prof. Dr. Svante Pääbo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig (MPI-EVA), der im Jahr 2022 für die Sequenzierung des Genoms der Neandertaler mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Pääbo stellte den Kontakt zur Abteilung Archäogenetik her, deren Direktor, Prof. Dr. Johannes Krause, der erste genetische Nachweis eines Denisova-Menschen gelang. Der Denisova-Mensch lebte vor rund 40.000 Jahren im sibirischen Altai-Gebirge und gilt neben Homo sapiens und Neandertaler als dritte Population der Gattung Homo. 

Gemeinsam mit Stephan Schiffels, Leiter der Arbeitsgruppe Populationsgenetik am MPI-EVA, Prof. Dr. Marcin Krawczyk vom UKS und seinem Doktoranden Jonas Trost analysierte Andreas Geier die DNA von mehr als 10.000 archaischen und modernen Menschen aus aller Welt. Darunter sind alle 21 verfügbaren Neandertaler-Genome und zwei Denisovaner-Genome sowie der weltweit einzige Hybrid, das Urzeit-Kind mit einer Neandertaler-Mutter und einem Denisovan-Vater. 

Primaten tragen Wildtyp, Frühmenschen 100 % Risiko-Allel

„Überraschenderweise trugen alle archaischen Menschen, die vor 40.000 bis 65.000 Jahren lebten, ausschließlich das Risiko-Allel, was auf eine Fixierung des Varianten-Allels bei ihren gemeinsamen Vorfahren hindeutet“, erklärt Andreas Geier und geht im menschlichen Stammbaum noch weiter zurück. „Bei der Analyse der Referenzgenomsequenz von Primaten wurde deutlich, dass die Menschenaffen, vom Orang-Utan über Gorilla bis zum Schimpansen und Bonobo, eine ursprüngliche, weniger riskante Genvariante tragen, einen sogenannten Wildtyp.“

Fettspeicherung sicherte einst das Überleben 

Daraus schließen die Wissenschaftler, dass die Hauptvariante des Fettleber-Gens PNPLA3 bereits vor der Aufspaltung des menschlichen Stammbaums vor mehr als 700.000 Jahren entstanden sein muss (siehe Abbildung 1). Aber warum? Schließlich hat diese Variante ungünstige Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Eine Hypothese ist, dass diese und andere Genvarianten, die am Stoffwechsel beteiligt sind, in der Altsteinzeit, dem Paläolithikum, entwickelt wurden, um das Überleben zu sichern. „Insbesondere die Fähigkeit, Fett zu speichern, war wahrscheinlich während des größten Teils der Menschheitsgeschichte von Vorteil, während sie unter den heutigen Lebensbedingungen von Nachteil ist“, erklärt Andreas Geier und zieht zum Vergleich den Habitus von Gänsen heran, die sich vor Langstreckenflügen eine Fettleber anfressen, um genügend Energie an Bord zu haben.

Unterstützt PNPLA3 die Thermogenese? 

PNPLA3 wird auch in der Netzhaut exprimiert. Hier ist es am Stoffwechsel von Vitamin A beteiligt, das das Sehen in der Dämmerung beeinflusst – möglicherweise ein wichtiger Aspekt bei der Jagd. Außerdem kommt es im braunen Fettgewebe vor. „Unsere Beobachtung könnte den Vorteil der Fettspeicherung in kaltem Klima und insbesondere für Neandertaler unter eiszeitlichen Bedingungen unterstreichen“, spekuliert Geier. Für diese Hypothese spricht, dass die PNPLA3-Variante bei 89,3 Prozent der Jakuten-Bevölkerung in der kältesten Region im Nordosten Russlands vorherrscht. Weitere Untersuchungen zur Funktion von PNPLA3 bei der Wärmeproduktion außerhalb der Leber wären laut Geier spannend.

Kein signifikantes Signal für natürliche negative Selektion

Interessant ist auch die Frage nach der natürlichen Selektion. Die Allelfrequenzen rund um den Globus haben sich in den vergangenen 15.000 Jahren kaum verändert. Es gibt im archäogenetischen Datensatz keinen signifikanten Hinweis auf genetische Selektion. Spricht das nicht gegen die Hypothese der natürlichen Selektion im Paläolithikum? Stephan Schiffels rät zur Vorsicht: „Obwohl unsere genomweite Analyse keine signifikanten Signale für natürliche Selektion in den letzten 10.000 Jahren gefunden hat, besteht immer noch die Möglichkeit, dass Selektion in Zeiträumen aktiv war, die älter sind als die, die wir heute statistisch analysieren können“. Angesichts der begrenzten Lebensspanne archaischer Menschen sei es auch nicht überraschend, dass kein Signal in Richtung negativer Selektion gefunden werden konnte, da diese Variante ihre ungünstigen Auswirkungen wahrscheinlich erst im späteren Erwachsenenalter entfaltet und daher weniger wahrscheinlich die Fortpflanzungsdynamik beeinflusst.

Haben wir das Fettleber-Gen von den Neandertalern geerbt? 

Ob wir Menschen die PNPLA3-Variante rs738409 von den Neandertalern geerbt haben, ist laut Andreas Geier die naheliegendste Frage, die sich aus der Studie ergibt, und sie ist nicht ganz unbegründet. So wurde die Genvariante SLC16A11, die unter anderem zu Diabetes Mellitus führt, von den Neandertalern auf die modernen Menschen übertragen, aber nicht an alle. Der Homo neanderthalensis lebte bereits in Europa als der Homo sapiens aus Afrika kam und ein Genaustausch stattfand. In Afrika findet man SLC16A11 nicht, dafür aber Varianten von PNPLA3. Und das spricht gegen einen Gentransfer durch den Neandertaler. „Obwohl er dazu beigetragen haben könnte“, fügt Stephan Schiffels hinzu. „Tatsächlich zeigen unsere nachfolgenden Analysen, dass eines von 1.000 heutigen PNPLA3-Varianten-Allelen aus dem Neandertaler-Genom stammen könnte.“ 


Förderung und Publikation: 
Die mit finanzieller Unterstützung des European Research Council (ERC) im EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 (grant agreement number 851511) gewonnenen Erkenntnisse wurden im renommierten Fachjournal für Gastroenterologie und Hepatologie Gut publiziert: Andreas Geier, Jonas Trost, Ke Wang, Clemens Schmid, Marcin Krawczyk, Stephan Schiffels: PNPLA3 fatty liver risk allele was fixed in Neanderthals and segregates neutrally in humans. Gut. Published Online First: 08 March 2024. doi: 10.1136/gutjnl-2023-331594

Das PNPLA3-Gen ist für die Produktion eines Enzyms namens Patatin-like Phospholipase Domain-containing Protein 3 (PNPLA3) verantwortlich. Das Enzym ist an Prozessen beteiligt, die die Speicherung und Freisetzung von Fetten regulieren. Mutationen oder genetische Varianten im PNPLA3-Gen können die Aktivität dieses Enzyms beeinflussen und damit den Fettstoffwechsel in der Leber verändern. So ist ein bestimmter genetischer Polymorphismus mit dem Referenzmarker rs738409 im PNPLA3-Gen mit einem erhöhten Risiko für eine Fettlebererkrankung assoziiert. Diese Variationen können dazu führen, dass die Leber mehr Fett speichert und weniger effizient abbaut, was zu einer Fettansammlung in der Leber führt und das Risiko für Lebererkrankungen erhöht.
 

Grafik zur Evolution und Verbreitung der Fettleber-Genvariante
Vorhandensein der PNPLA3 rs738409-Genvariante bei modernen und archaischen Menschen, wobei die großen Menschenaffen die ursprüngliche Variante, den Wildtyp tragen. © UKW
Rekonstruktion von Neandertalern in einer Höhle
Rekonstruktion einer Neandertalergruppe. Was können uns archäogenetischen Erkenntnisse über die Lebersteatose bei alten und modernen Menschen sagen? © Johannes Krause, Neandertal group by Atelier Daynes, Paris, France. In: Museum of the Krapina Neanderthals, Krapina, Croatia. Project and realization of the Museum: Zeljko Kovacic and Jakov Radovcic.

„Zentrum für Seltene Erkrankungen Nordbayern“ an der Uniklinik Würzburg besteht seit zehn Jahren / „Leuchtturm der Versorgung und Forschung“

Zahl der bekannten Seltenen Erkrankungen steigt an / 600.000 Patienten im Freistaat betroffen

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen am UKW konnte am 29. Februar das zehnjährige Bestehen feiern. V.l..: Prof. Dr. Martin Fassnacht (UKW), Staatssekretärin Sabine Dittmar, Folker Quack, (Würzburger Arbeitskreis für Seltene Erkrankungen), Eva Luise Köhler, (Eva Luise und Horst Köhler Stiftung), Prof. Dr. Helge Hebestreit, Leiter des ZESE am UKW, Geske Wehr, Vorsitzende der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), Prof. Dr. Tilmann Schweitzer, stellvertretender Sprecher des ZESE, Thomas Zöller, Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung und Prof. Dr. Matthias Frosch, Dekan der Medizinischen Fakultät Würzburg. Foto: UKW / Stefan Dreising

Würzburg. Das Zentrum für Seltene Erkrankungen Nordbayern („ZESE“) am Universitätsklinikum Würzburg (UKW) konnte heute (29. Februar) sein zehnjähriges Bestehen feiern. Der 29. Februar ist der offizielle Tag der Seltenen Erkrankungen. Eine Erkrankung, von der nicht mehr als fünf von 10.000 Menschen betroffen sind, gilt als selten. Bislang sind weltweit etwa 8.000 verschiedene Seltene Erkrankungen bekannt – Tendenz steigend.

Bei der Jubiläumsveranstaltung am UKW gab es u.a. eine Podiumsdiskussion. Daran nahm auch Sabine Dittmar, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium für Gesundheit, teil. Dittmar betonte: „Diese Zentren innerhalb der Universitätsmedizin, wie das in Würzburg, sind eine sehr wichtige Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten, die oft lange nach einer passenden Behandlung suchen. Neben der Versorgung werden dort auch standortübergreifend Forschungsprojekte initiiert, um die Behandlung zu verbessern.“

Vernetzung als Vorteil für bessere Versorgung

Judith Gerlach, Bayerische Staatsministerin für Gesundheit, Pflege und Prävention, dankte dem Würzburger Zentrum unter der Leitung von Prof. Dr. Helge Hebestreit per Videobotschaft auch für die Koordination des BASE-Netzes („Bayerischer Arbeitskreis für Seltene Erkrankungen“). Das BASE-Netz ist ein Zusammenschluss der Zentren für Seltene Erkrankungen der sechs bayerischen Unikliniken in Würzburg, Regensburg, Erlangen, München (TU und LMU) und Augsburg. In diesem Netzwerk werden bayernweit Kompetenzen gebündelt und datenschutzkonform eine Patientenakte zusammengestellt, die von behandelnden Fachärzten in den Zentren genutzt werden kann. „Gerade bei einer Seltenen Erkrankung ist es wichtig, dass alle Daten für die behandelnden Mediziner schnell verfügbar sind. Die Zusammenarbeit der bayerischen Zentren hat Vorbildcharakter. Davon profitieren die Patientinnen und Patienten und alle, die an der Behandlung beteiligt sind“, so die bayerische Gesundheitsministerin.

Thomas Zöller, MdL und Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung, erklärte:„Der 29. Februar ist der ‚Tag der Seltenen Erkrankungen‘. Zusammen sind die ‚Seltenen‘ aber Viele. Allein in Bayern sind etwa 600.000 Menschen betroffen. Patientendaten können Forschungserfolge beschleunigen. Patientenbeteiligung ist daher unerlässlich!“ 

„Ein Ort, der Sicherheit und Orientierung gibt“

Zu Gast in Würzburg war auch Eva Luise Köhler, (Eva Luise und Horst Köhler Stiftung und Schirmherrin der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen, ACHSE). Sie dankte dem Team um Prof. Hebestreit für den Einsatz: „Mit beeindruckendem Engagement und der notwendigen Portion Idealismus haben Professor Hebestreit und sein Team hier in Würzburg einen Ort geschaffen, der weit mehr ist als nur eine medizinische Einrichtung. Ihr Zentrum ist ein Leuchtturm in der Versorgung geworden, der Menschen mit Seltenen Erkrankungen Sicherheit und Orientierung gibt und auch in schwierigen gesundheitlichen Fahrwassern verlässlich den Weg weist. Von Herzen danke ich für den besonderen Einsatz und wünsche weiterhin viel Kraft für diese wichtige Arbeit.“

Diese Leuchtturmfunktion des Würzburger ZESE bekräftigte auch Geske Wehr, Vorsitzende der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE): „Hier werden die mit der Patientenselbsthilfe erarbeiteten Qualitätskriterien für Zentren für Seltene Erkrankungen gelebt. Die gute, umfassende Betreuung in Zukunft sicherzustellen, ist eine Aufgabe, die viel Kraft abverlangt – auch von einzelnen engagierten Köpfen. Zehn Jahre sind ein Meilenstein. Danken möchten wir insbesondere Professor Dr. Helge Hebestreit: für sein bisheriges Engagement, der Energie, die er mit Herzblut und dabei stets nahbar für seine Patientinnen und Patienten, in seine Arbeit und dieses Zentrum einbringt. Wir freuen uns auf die weitere konstruktive Zusammenarbeit, bei der die Patientenseite Gehör für ihre Anliegen erfährt.“

Herausforderung: Kontinuierliche Versorgung während verschiedener Altersphasen

Prof. Dr. Helge Hebestreit, der Leiter des Würzburger Zentrums, nutzte die Jubiläumsveranstaltung auch, um auf die kommenden Aufgaben hinzuweisen. Die sieht er u.a. darin eine altersgruppenübergreifende Versorgung für die Patientinnen und Patienten sicher zu stellen. „Derzeit sind ca. 60 Prozent der Patienten im Erwachsenenalter. Allerdings gibt es große Probleme, wenn aus Kindern bzw. jugendlichen Patienten Erwachsene werden und sich dann alle Ansprechpartner ändern oder gar keine Erwachsenenversorgung existiert. In den universitären Zentren gibt es zwar eine große personelle Kontinuität in der Versorgung, aber wenn anstelle des langjährigen Teams in der Kinderklinik dann im Erwachsenalter ein neuer Arzt mit einem ganz anderen multiprofessionellen Team die Betreuung übernimmt, kann dies eine große Herausforderung sein. Gerade bei Seltenen Erkrankungen ist aber eine Kontinuität wichtig in der Behandlung“, so Hebestreit. Zudem steige, auch dank der vernetzten Forschung, die Anzahl der Seltenen Erkrankungen: Jährlich kommen etwa 200 neue Krankheitsbilder dazu.

Zu den bekannteren Seltenen Erkrankungen zählt etwa die Erkrankung Mukoviszidose, mit der jährlich rund 200 Kinder in Deutschland geboren werden. Viele Erkrankungen sind allerdings ultraselten, z.B. die Blutgerinnungsstörung „Faktor XIII-Mangel“: Sie tritt nur bei einem von rund zwei Millionen Menschen auf.

Hintergrund: „Tag der Seltenen Erkrankungen“

2024 ist wieder ein Schaltjahr und daher am 29. Februar ein ganz spezieller Tag, der „echte“ Tag der Seltenen Erkrankungen. Jährlich wird – weil es den 29. Februar nur selten gibt – immer am letzten Tag im Februar auf das Thema aufmerksam gemacht. In Deutschland gibt es rund vier Millionen Menschen mit einer Seltenen Erkrankung. Das Motto in diesem Jahr lautet: #Shareyourcolours bzw.  #Teilt eure Farben. Zum Aktionstag wird am Abend des 29. Februar sowohl das Gebäude des ZESE am UKW beleuchtet und aus Anlass des Jubiläums erstmals auch die Steinburg in Würzburg.

Hier geht gibt es einen aktuellen Info-Film zum Zentrum für Seltene Erkrankungen.

Das Zentrum für Seltene Erkrankungen am UKW konnte am 29. Februar das zehnjährige Bestehen feiern. V.l..: Prof. Dr. Martin Fassnacht (UKW), Staatssekretärin Sabine Dittmar, Folker Quack, (Würzburger Arbeitskreis für Seltene Erkrankungen), Eva Luise Köhler, (Eva Luise und Horst Köhler Stiftung), Prof. Dr. Helge Hebestreit, Leiter des ZESE am UKW, Geske Wehr, Vorsitzende der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE), Prof. Dr. Tilmann Schweitzer, stellvertretender Sprecher des ZESE, Thomas Zöller, Patienten- und Pflegebeauftragter der Bayerischen Staatsregierung und Prof. Dr. Matthias Frosch, Dekan der Medizinischen Fakultät Würzburg. Foto: UKW / Stefan Dreising

Ausgezeichneter Einsatz der Dornröschen-Technologie

Best Abstract Award für CARAMBA-Studie

Privatdozentin Dr. Sophia Danhof vom Universitätsklinikum Würzburg (UKW) erhält beim größten europäischen CAR-T-Zell-Kongress in Valencia den Best Abstract Award für ihren Kongressbeitrag zur Caramba-Studie.

Preisträgerin Sophia Danhof mit Urkunde zwischen Michael Hudecek und Anna Sureda
Sophia Danhof (Mitte) vom Uniklinikum Würzburg erhielt Mitte Februar beim European CAR-T Cell Meeting in Valencia von den Kongress-Vorsitzenden Michael Hudecek und Anna Sureda den Best Abstract Award für ihren Beitrag zur Caramba-Studie.

Würzburg. „Die CARAMBA-Studie ist ein europäischer Teamerfolg unter Würzburger Leitung für die klinische Entwicklung akademischer Zellprodukte“, beschreibt Privatdozentin Dr. Sophia Danhof die CARAMBA-Studie in einem Satz. Im Rahmen der multizentrischen von der EU geförderten Studie hat der Lehrstuhl für Zelluläre Immuntherapie am UKW bewiesen, dass es einen selbst entwickelten CAR in die klinische Translation bringen kann, in diesem Fall waren es SLAMF7-CAR-T-Zellen bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem Multiplen Myelom. Für die Präsentation der CARAMBA-Studie erhielt die Internistin und Wissenschaftlerin des UKW nun beim EBMT-EHA 6th European CAR T-cell Meeting in Valencia den mit 10.000 Euro dotierten Best Abstract Award. 

Verbesserung der Erkrankungskontrolle beim fortgeschrittenen Multiplen Myelom

 Obwohl in den letzten Jahren entscheidende Fortschritte bei der Behandlung des Multiplen Myeloms erzielt wurden, bleibt die Blutkrebserkrankung in vielen Fällen weiterhin unheilbar. Um im fortgeschrittenen Stadium eine Verbesserung der Erkrankungskontrolle zu erzielen, entwickelten Forschende der Universitätsmedizin Würzburg einen neuartigen Ansatz. Mit der sogenannten Sleeping Beauty-Technologie können die Immunzellen von Betroffenen dergestalt umprogrammiert werden, dass sie mittels Sensoren auf ihrer Oberfläche, den Chimären Antigen Rezeptoren (CARs), in die Lage versetzt werden, Tumorzellen zu erkennen und abzuräumen. 

Sleeping Beauty: Alte Eigenschaft eines DNA-Abschnitts neu zum Leben erweckt

Der Name Sleeping Beauty geht auf die Märchenfigur Dornröschen zurück. Bei der Sleeping Beauty-Technologie wurde die Eigenschaft eines so genannten Transposons, das vor mehr als zehn Millionen Jahren in Fischen vorkam, neu zum Leben erweckt. Ein Transposon ist ein DNA-Abschnitt, der seine Position im Erbgut verändern kann. Die Wissenschaft erzeugt es nun künstlich, um therapeutische Sequenzen in das Erbgut von Patientenzellen zu schleusen. 

In der CARAMBA Studie wurde SLAMF7-CAR-T-Zelltherapie nun erstmals bei Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittenem Multiplen Myelom, bei denen konventionelle Therapien dieser bösartigen Erkrankung der Plasmazellen im Knochenmark ausgeschöpft sind, klinisch getestet. Primäres Ziel war die Untersuchung von Machbarkeit und Sicherheit der neuartigen Behandlungsmethode. 

Erste Signale für Antitumorwirksamkeit

„An drei europäischen Standorten (Würzburg, Pamplona, Lille) konnten insgesamt neun Patientinnen und Patienten mit fortgeschrittener Erkrankung mit steigenden Zelldosen behandelt werden, wobei keine relevanten Sicherheitsbedenken auftraten und sich erste Signale für eine Antitumorwirksamkeit ergaben“, berichtet Sophia Danhof. In weiteren Folgeprojekten wird bereits daran gearbeitet, diese innovative Technologie auch für die Behandlung anderer Krebserkrankung nutzbar zu machen.

„Der Best Abstract Award für Sophia Danhof, aber auch die vielen anderen sehr gut bewerteten Kongressbeiträge aus Würzburg, zeigen, dass wir bei der CAR-T-Zell-Forschung absolut vorne mit dabei sind“, freut sich Prof. Dr. Michael Hudecek, Inhaber des Lehrstuhls für Zelluläre Immuntherapie am Uniklinikum Würzburg (UKW) und Vorsitz von Europas größtem CAR T-Zell-Meeting in Valencia. 

Weitere Informationen zur Tagung gibt es hier

Eine Zusammenfassung des EBMT-EHA 6th European CAR T-cell Meetings finden Sie hier

Hier geht es zur Webseite der CARAMBA-Studie.

Preisträgerin Sophia Danhof mit Urkunde zwischen Michael Hudecek und Anna Sureda
Sophia Danhof (Mitte) vom Uniklinikum Würzburg erhielt Mitte Februar beim European CAR-T Cell Meeting in Valencia von den Kongress-Vorsitzenden Michael Hudecek und Anna Sureda den Best Abstract Award für ihren Beitrag zur Caramba-Studie.

Landkarte gestörter Netzwerke im Gehirn

Studie in Nature Neurosciences zu spezifischen Nervenbündeln bei Parkinson, Dystonie, Tourette-Syndrom und Zwangsstörung

Ein internationales Studienteam mit Würzburger Beteiligung analysierte Daten von tiefen Hirnstimulationen bei verschiedenen neurologischen Erkrankungen und lokalisierte die fehlerhaft funktionierenden Verbindungen im Gehirn, die sich wie Blockaden auf gesunde Gehirnfunktionen auswirken und zu Beeinträchtigungen im Bewegungsablauf sowie zu Störungen im Bereich der Gefühle und Verhaltensweisen führen.

 

farblich markierte Nervenbahnen von 534 Elektroden
Die Forschenden analysierten 534 Elektroden bei 261 Personen mit 4 unterschiedlichen Gehirn-Netzwerk-Störungen. Legt man alle durch die 534 Elektroden modulierten Verbindungen übereinander ist klar zu erkennen, dass es für jede der vier farblich markierten Störungen spezifische Projektionsfasern gibt. © Charité | Barbara Hollunder (doi: 10.1038/s41593-024-01570-1)
eingefärbte Nervenfasern bei verschiedenen Störungen
Betroffene Nervenbündel bei Parkinson-Syndrom (grün), Dystonie (gelb), Tourette-Syndrom (blau) und Zwangsstörung (rot). Vergrößert neben dem Hirnschnitt: die jeweils optimalen Zielgebiete einer tiefen Hirnstimulation im Zwischenhirn. © Charité | Barbara Hollunder
Elektrode unter einer Lupe, im Hintergrund ein Gehirn-Modell
Bild: Bei Morbus Parkinson und anderen Bewegungsstörungen ist die Tiefe Hirnstimulation inzwischen eine fest etablierte Methode. Über dünne, ins Gehirn implantierte Elektroden werden permanent elektrische Impulse abgegeben, welche die Symptome lindern. © Daniel Peter / UKW

Bewegungsstörungen wie Parkinson und Dystonie, welche durch Muskelkrämpfe gekennzeichnet ist, aber auch das Tourette-Syndrom sowie Zwangsstörungen gehen allesamt auf fehlerhafte Verbindungen von Gehirnregionen zurück. Eine inzwischen bewährte Behandlungsmöglichkeit dieser neurologischen und neuropsychologischen Erkrankungen ist die tiefe Hirnstimulation, im Volksmund auch als Hirnschrittmacher bekannt. Über dünne, ins Gehirn implantierte Elektroden werden permanent elektrische Impulse abgegeben, welche die Symptome lindern. Der genaue Wirkmechanismus, beziehungsweise welche Hirnschaltkreise welchen Störungen unterliegen, war bislang noch nicht genau bekannt. Im hochrangigen Fachjournal Nature Neuroscience hat jetzt ein internationales Team unter Federführung von Forschenden der Charité – Universitätsmedizin Berlin und des Bostoner Brigham and Women’s Hospital, mit Würzburger Beteiligung, eine einzigartige Landkarte gestörter Netzwerke im Gehirn veröffentlicht. 

534 Elektroden bei 261 Personen mit 4 unterschiedlichen Gehirn-Netzwerk-Störungen

Ein kleiner etwa ein Zentimeter langer Kern im Zwischenhirn war der Ausgangspunkt der Forschung. Denn der so genannte Nucleus Subthalamicus, in den die Elektroden implantiert werden, ist kurioserweise ein erfolgreicher Punkt für die tiefe Hirnstimulation sowohl bei Parkinson und Dystonie als auch seit neuestem bei Zwangserkrankungen und Tic-Störungen. Die Forschenden stellten sich die Frage: Wie kann das sein, dass sich über so einen kleinen Kern die Symptome derart unterschiedlicher Hirnfunktionsstörungen behandeln lassen? 

Sie analysierten die Daten von 534 Elektroden, die bei insgesamt 261 Patientinnen und Patienten aus der ganzen Welt in die rechte und linke Gehirnhälfte implantiert wurden. 127 von ihnen litten unter der Parkinson-Krankheit, 70 unter Dystonie, 50 hatten eine Zwangsstörung und 14 das Tourette-Syndrom. Einen großen Teil der Parkinson-Fälle lieferte die Neurologische Klinik und Poliklinik des Universitätsklinikums Würzburg (UKW). Die von Prof. Dr. Jens Volkmann geleitete Klinik ist eines der führenden Zentren für tiefe Hirnstimulation in Deutschland, zudem ist er Vorstandsvorsitzender der 2019 gegründeten Parkinson Stiftung. 

Entwicklung der Software im SFB/TRR 295 ReTune

Um die exakte Lage der jeweiligen Elektroden zu erfassen, kam eine Software (LeadDBS) zum Einsatz, die im Rahmen des Transregio-Sonderforschungsbereichs (SFB) TRR 295 ReTune weiterentwickelt wurde. In dem von der Charité Berlin und dem UKW koordinierten SFB werden seit vier Jahren die Mechanismen und Funktion der dynamischen neuronalen Netzwerke untersucht, um sie durch invasive oder nicht-invasive Hirnstimulation gezielt zu beeinflussen. „Eines der wichtigsten Ergebnisse aus den letzten Jahren ist die Erkenntnis, dass eine Vielzahl von neurologischen und psychiatrischen Symptomen eine fehlerhafte Informationsverarbeitung zwischen entfernten Hirnregionen zugrunde liegt. Um diese Gehirn-Netzwerk-Störung optimal zu behandeln ist die Lage der Elektroden sehr wichtig, denn schon kleinste Abweichungen bei der Platzierung können die gewünschten Effekte ausbleiben lassen“, sagt PD Dr. Martin Reich, geschäftsführender Oberarzt der Neurologischen Klinik und Poliklinik am UKW. 

Lokalisation von Netzwerken, die für Behandlung entscheidend sind

Neben der genauen Lokalisierung ermöglichte die Software die Analyse des großen Kollektivs von Patientinnen und Patienten, um schlussendlich zu verstehen, welche Fasern über die tiefe Hirnstimulation moduliert werden. Legt man alle durch die 534 Elektroden modulierten Verbindungen übereinander ist klar zu erkennen, dass es für jede der vier farblich markierten Störungen spezifische Projektionsfasern gibt, die mit Regionen im Vorderhin verbunden sind, welche wiederum eine wichtige Rolle bei Bewegungsabläufen, Verhaltenssteuerung oder Informationsverarbeitung spielen. Zusammengenommen beschreiben diese Schaltkreise eine Sammlung von dysfunktionalen Schaltkreisen, die zu verschiedenen Hirnstörungen führen. Durch die Stimulation der Schaltkreise können Blockaden moduliert werden, um schlussendlich die Symptome der Erkrankung zu lindern. 

Landkarte der Symptom-Netzwerk-Verschaltungen des Gehirns

„In Anlehnung an die Begriffe des Konnektoms als Beschreibung der Gesamtheit aller Nervenverbindungen im Gehirn, oder des Genoms als Sammelbezeichnung für die gesamte Erbinformation, haben wir hierfür den Begriff des menschlichen ‚Dysfunktoms‘ geprägt. Eines Tages soll dieses die Gesamtheit aller gestörten Hirnschaltkreise beschreiben, die als Folge von Netzwerkerkrankungen auftreten können“, erklärt Barbara Hollunder, Stipendiatin des Einstein Center for Neurosciences an der Charité und Erstautorin der Studie.

„Die Studie ist die Speerspitze des SFB ReTune und zeigt darüber hinaus unsere hervorragende internationale Zusammenarbeit, vor allem mit dem Center for Brain Circuit Therapeutics am Brigham and Women's Hospital in Harvard“, sagt Dr. Martin Reich. Der Neurologe hat dort selbst ein Jahr lang gearbeitet und pflegt eine sehr erfolgreiche Verbindung mit Dr. Andreas Horn, dem Letztautor der Studie und Professor für Neurologie an der Harvard Medical School. Gemeinsam haben sie bereits fünf hochrangige Publikationen zu dem Thema Gehirn-Netzwerk-Erkrankungen und tiefe Hirnstimulation veröffentlichen können. 

KI errechnet individuelle Stimulationsparameter

Bemerkenswert sei, dass in der Studie die klinische Methode der tiefen Hirnstimulation genutzt wurde, um neurowissenschaftliche Erkenntnisse zu verbessern, mit denen wiederum im transnationalen Ansatz die Versorgung der Patientinnen und Patienten zukünftig optimiert werden könne. Zusätzlich zur präzisen Platzierung beeinflusst die Feinabstimmung der Stromverteilung den Erfolg der Behandlung. Die elektrischen Impulse werden fortwährend über vier Kontakte auf der Elektrode ins umliegende Gewebe abgegeben und über Nervenbahnen an weitere entferntere Hirnareale geleitet. „Welcher Kontakt mit wie viel Milliampere bestückt wird, müssen wir Neurologen individuell testen“, erklärt Dr. Martin Reich und fügt ein „noch“ hinzu. „Wir haben einen Algorithmus basierend auf den Ergebnissen der Studie entwickelt, der bei jeder Patientin und jedem Patienten basierend auf individuellen Befunden und Bildern voraussagt, wie wir die elektrischen Impulse bei welcher Erkrankung optimal einstellen. Erste Tests in Würzburg bei der Behandlung der Parkinson-Symptome liefen sehr vielversprechend.“ 

Über die Studie
Forschende an zehn spezialisierten Zentren in sieben Ländern haben Daten für diese Studie bereitgestellt und zu den Ergebnissen beigetragen. Unterstützt wurden die Arbeiten unter anderem durch das Einstein Center for Neurosciences Berlin (ECN), das Berlin Institute of Health in der Charité (BIH), die Benign Essential Blepharospasm Research Foundation, die privaten Förderer Larry und Kana Miao, die Agence nationale de la Recherche, das NIHR UCLH Biomedical Research Centre, die Scuola Superiore Sant'Anna, die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt, die Else Kröner-Fresenius-Stiftung, das Gesundheitsministerium Italiens, das Medical Research Council UK, die National Institutes of Health (NIH) und den New Venture Fund.

Hier geht es zur Pressemitteilung der Charité – Universitätsmedizin Berlin (Abteilung für Bewegungsstörungen und Neuromodulation, Klinik für Neurologie mit Experimenteller Neurologie).

Publikation:
Mapping dysfunctional circuits in the frontal cortex using deep brain stimulation.
Barbara Hollunder, Jill L. Ostrem, Ilkem Aysu Sahin, Nanditha Rajamani, Simón Oxenford, Konstantin Butenko, Clemens Neudorfer, Pablo Reinhardt, Patricia Zvarova, Mircea Polosan, Harith Akram, Matteo Vissani, Chencheng Zhang, Bomin Sun, Pavel Navratil, Martin M. Reich, Jens Volkmann, Fang-Cheng Yeh, Juan Carlos Baldermann, Till A. Dembek, Veerle Visser-Vandewalle, Eduardo Joaquim Lopes Alho, Paulo Roberto Franceschini, Pranav Nanda, Carsten Finke, Andrea A. Kühn, Darin D. Dougherty, R. Mark Richardson, Hagai Bergman, Mahlon R. DeLong, Alberto Mazzoni, Luigi M. Romito, Himanshu Tyagi, Ludvic Zrinzo, Eileen M. Joyce, Stephan Chabardes, Philip A. Starr, Ningfei Li & Andreas Horn. Nature Neuroscience. 22 February 2024. 
doi: 10.1038/s41593-024-01570-1

farblich markierte Nervenbahnen von 534 Elektroden
Die Forschenden analysierten 534 Elektroden bei 261 Personen mit 4 unterschiedlichen Gehirn-Netzwerk-Störungen. Legt man alle durch die 534 Elektroden modulierten Verbindungen übereinander ist klar zu erkennen, dass es für jede der vier farblich markierten Störungen spezifische Projektionsfasern gibt. © Charité | Barbara Hollunder (doi: 10.1038/s41593-024-01570-1)
eingefärbte Nervenfasern bei verschiedenen Störungen
Betroffene Nervenbündel bei Parkinson-Syndrom (grün), Dystonie (gelb), Tourette-Syndrom (blau) und Zwangsstörung (rot). Vergrößert neben dem Hirnschnitt: die jeweils optimalen Zielgebiete einer tiefen Hirnstimulation im Zwischenhirn. © Charité | Barbara Hollunder
Elektrode unter einer Lupe, im Hintergrund ein Gehirn-Modell
Bild: Bei Morbus Parkinson und anderen Bewegungsstörungen ist die Tiefe Hirnstimulation inzwischen eine fest etablierte Methode. Über dünne, ins Gehirn implantierte Elektroden werden permanent elektrische Impulse abgegeben, welche die Symptome lindern. © Daniel Peter / UKW

FIRST-MAPP liefert höchsten Grad an Evidenz

Sunitinib wird zur medizinischen Option mit dem bisher höchsten Evidenzgrad für die Antitumor-Wirksamkeit bei bösartigem Phäochromozytom und Paragangliom

In der in The Lancet publizierten randomisierten FIRST-MAPPP-Studie erweist sich erstmals eine Therapie – nämlich Sunitinib – als wirksame Standardtherapie beim sehr seltenen malignen Phäochromozytom und Paragangliom.

 

Die PET/CT-Aufnahme zeigt Anreicherung des Tracers
In dieser PET/CT-Aufnahme eines Patienten mit einem metastasiertem Phäochromozytom fallen neben der natürlichen Traceranreicherung in Leber, Milz, Nieren und Harnblase vor allem die zahlreichen Metastasen im Skelettsystem auf. © Nuklearmedizin, Universitätsklinikum Würzburg

Würzburg. Paragangliome sind Stresshormonproduzierende Tumore, die im Bauch-, Brust, und Kopf-Hals-Bereich auftreten können. Wenn sie in der Nebenniere entstehen, werden sie Phäochromozytome genannt. Die Tumore sind selten, meist gutartig und können gut behandelt werden. „Bei einem malignen, progredienten Phäochromozytom und Paragangliom hingegen, das durch Metastasen gekennzeichnet ist und jedes Jahr bei etwa 50 Personen in Deutschland neu diagnostiziert wird, überlebt nur jeder zweite Erkrankte die folgenden fünf Jahre. Das mittlere 5-Jahres-Überleben der Patientinnen und Patienten liegt bei 45 Prozent“, berichtet Prof. Dr. Martin Fassnacht, Leiter des Lehrstuhls Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Würzburg (UKW). 

Eine effektive Standardtherapie gab es bislang noch nicht. Doch die FIRST-MAPP-Studie (First International Randomised Study in MAlignant Progressive Phaeochromocytoma and Paraganglioma), die das UKW maßgeblich mitkoordiniert hat, liefert nun erstmals die Evidenz, dass der Multityrosinkinase-Inhibitor Sunitinib eine wichtige neue Therapieoption ist. Sunitinib blockiert mehrere molekulare Angriffspunkte, die am Wachstum und der Ausbreitung von verschiedenen Tumoren beteiligt sind. Die Auswertung der Studie, die von Prof. Dr. Eric Baudin vom französischen Institut Gustave Roussy gemeinsam mit Martin Fassnacht geleitet wurde, ist jetzt im renommierten Journal The Lancet erschienen. 

Nach dem Zufallsprinzip im Verhältnis 1:1 Sunitinib oder Placebo zugewiesen

Insgesamt wurden in 15 Zentren aus vier europäischen Ländern über fast zehn Jahre hinweg 78 Personen mit metastasiertem Phäochromozytomen und Paragangliomen rekrutiert. Das Durchschnittsalter betrug 53 Jahre, 41 Prozent der Studienteilnehmenden war weiblich. Die Gruppenzuteilung erfolgte nach dem Zufallsprinzip. Insgesamt erhielten 39 Studienteilnehmende im Schnitt ein Jahr lang das Medikament Sunitib - 37,5 mg pro Tag. Weitere 39 Personen wurden im Schnitt vier Monate lang mit einem Scheinmedikament behandelt. Insgesamt hatten 59 % der Patientinnen und Patienten bereits eine Vorbehandlung erhalten. 

Sunitinib stellt die beste validierte therapeutische Option dar

Der primäre Endpunkt wurde erreicht, die Hypothese des Studienkonzepts bestätigt und Sunitinib als wirksam eingestuft: Die Rate der Patientinnen und Patienten, die nach zwölf Monaten noch lebten und frei von einer Progression waren, lag unter Sunitinib bei 36 % während sie in der Placebogruppe 19 % betrug. Das heißt, unter Sunitinib schritt bei 14 von 39 Studienteilnehmenden der Tumor nicht fort. Darüber hinaus blieb die Lebensqualität erhalten und die Intensität der Knochenschmerzen nahm ab. Auch die Toxizität von Sunitinib war überschaubar. 

"Die FIRST-MAPPP-Studie ist die erste randomisierte Studie bei Patientinnen und -Patienten mit malignem Phäochromozytom/Paragangliom und eine der wenigen dieser aufwendigen Studien generell im Bereich der extrem seltenen Krebsarten, die kürzlich durch eine jährliche Inzidenz von weniger als 1 pro Million definiert wurden. Sie liefert damit den höchsten Grad an Evidenz, der jemals erreicht wurde, um die antitumorale Rolle einer systemischen Behandlungsoption beim bösartigen Phäochromozytom/Paragangliom zu unterstützen, und verändert damit weltweit das therapeutische Vorgehen", fasst Martin Fassnacht zusammen. Fassnacht und das gesamte Team der Würzburger Endokrinologie sind stolz darauf, dass man diese langwierige Studie bei diesem ultraseltenen Tumor ohne Unterstützung von Pharmafirmen und nur mit öffentlichen Geldern nun erfolgreich abschließen konnte, um damit eine neue Standardtherapie zu etablieren. 

Finanzielle Unterstützung

Die FIRST-MAPPP-Studie wurde vom französischen Gesundheitsministerium, vom deutschen Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie mit einem Zuschuss aus dem Siebten Rahmenprogramm der EU finanziert. 

Publikation:

Sunitinib for metastatic progressive phaeochromocytomas and paragangliomas: results from FIRSTMAPPP, an academic, multicentre, international, randomised, placebo-controlled, double-blind, phase 2 trial. Eric Baudin, Bernard Goichot, Alfredo Berruti, Julien Hadoux, Salma Moalla, Sandrine Laboureau, Svenja Nölting, Christelle de la Fouchardière, Tina Kienitz, Timo Deutschbein, Stefania Zovato, Laurence Amar, Magalie Haissaguerre, Henri Timmers, Patricia Niccoli, Antongiulio Faggiano, Moussa Angokai, Livia Lamartina, Florina Luca, Deborah Cosentini, Stefanie Hahner, Felix Beuschlein, Marie Attard, Matthieu Texier*, Martin Fassnacht*; on behalf of the ENDOCAN-COMETE and ENSAT Networks. The Lancet. February 22, 2024. doi.org/10.1016/S0140-6736(23)02554-0

Die PET/CT-Aufnahme zeigt Anreicherung des Tracers
In dieser PET/CT-Aufnahme eines Patienten mit einem metastasiertem Phäochromozytom fallen neben der natürlichen Traceranreicherung in Leber, Milz, Nieren und Harnblase vor allem die zahlreichen Metastasen im Skelettsystem auf. © Nuklearmedizin, Universitätsklinikum Würzburg

„Jeder kann lernen, mehr oder weniger empathisch zu sein“

Prof. Dr. Grit Hein vom Universitätsklinikum Würzburg (UKW) hat im Fachjournal PNAS veröffentlicht, wie sich Empathie übertragen lässt. Beobachtungslernprozesse beeinflussen das Ausmaß, in dem sich eine Person in den Schmerz einer anderen Person einfühlt. Wir können also vom Umfeld Empathie lernen oder verlernen.

Porträtbild von Prof. Dr. Grit Hein
Prof. Dr. Grit Hein erforscht am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) Translationale Soziale Neurowissenschaften. © Cordula Buschulte

Würzburg. Mit ihren neuesten Auswertungen zur Empathiefähigkeit hat Prof. Dr. Grit Hein einmal mehr die alte Weisheit „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“ widerlegt. Denn nicht nur Kinder können empathische Reaktionen zusätzlich zu ihren genetischen Anlagen von engen Bezugspersonen übernehmen. Auch Erwachsene sind formbar und können durch die Beobachtung anderer lernen, mehr oder weniger mitfühlend zu sein. Der Professorin für Translationale Soziale Neurowissenschaften am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) ist es gelungen, dieses komplexe soziale Phänomen über mathematische Modelle, so genanntes Computational Modeling, zu erfassen und mit Hilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT) plastisch im erwachsenen Hirn abzubilden. Ihre in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America) publizierten Ergebnisse liefern einen rechnerischen und neuronalen Mechanismus für die soziale Übertragung von Empathie. Dieser Mechanismus erklärt die Veränderungen individueller empathischer Reaktionen in empathischen und nicht-empathischen sozialen Umgebungen. Grit Hein hat gewissermaßen formalisiert, wie Empathie übertragen wird.

Soziale Übertragung von Empathie für Schmerz in verschiedenen Studien getestet 

Im Mittelpunkt ihrer Untersuchungen stand die Frage, ob sich Empathie oder fehlende Empathie für den Schmerz einer anderen Person überträgt. In insgesamt vier Studien sahen die Studienteilnehmerinnen zuerst Videos von Händen, die gerade eine schmerzhafte Stimulation erhielten und gaben auf einer Rating-Skala an, wie sie sich dabei fühlen. Nachdem sie ihr eigenes Rating abgegeben hatten, wurden ihnen die empathischen oder nicht-empathischen Reaktionen anderer Personen auf die gleichen Videos gezeigt. Zuletzt gaben die Personen erneut ein Empathie-Rating ab, diesmal aber bezogen auf dem Schmerz einer neuen Person. Mit diesem Versuchsaufbau konnten Grit Hein und ihr Team testen, wie und ob sich die Empathie einer Person in Anwesenheit von empathischen und nicht-empathischen Mitmenschen ändert. 

Beobachtungsbasiertes Verstärkungslernen

Das Ergebnis: Durch die Beobachtung empathischer Reaktionen anderer Personen lernten die Versuchsteilnehmerinnen mehr oder weniger empathisch zu sein. „Je nachdem ob empathische oder nicht empathische Reaktionen beobachtet wurden, stiegen oder sanken die Empathie-Ratings. Interessanterweise änderte sich auch die neuronale Reaktion auf den Schmerz der anderen Person.“ sagt Grit Hein. Die im fMRT Scanner gemessenen neuronalen Veränderungen schlugen sich in einer veränderten Vernetzung der anterioren Insel nieder, einer Hirnregion die mit der Verarbeitung von Empathie in Verbindung gebracht wird. Hein und ihr Team können zeigen, dass diese neuronalen Veränderungen durch mathematische Lernmodelle erklärbar sind. Das bedeutet, dass die erhöhte oder abgeschwächte Empathie wirklich durch Lernen von anderen hervorgerufen wird und nicht nur bloße Nachahmung ist oder gezeigt wird um anderen zu gefallen. 

Es lohnt sich, in ein empathisches Umfeld zu investieren

Übertragen auf den beruflichen Kontext bedeutet das: Wer ein gutes Team haben möchte, muss für ein gutes Umfeld sorgen? „Unbedingt!“, antwortet Grit Hein. „Man muss einfach wissen, dass auch Erwachsene durch Beobachten Empathie erlernen oder verlernen, und zwar selbst von Personen die sie nicht kennen.“ Wer aus Gründen des Sparens, Zeitmangels oder Missmanagements eine Arbeitsumgebung schafft, in der es an Empathie mangelt, muss sich bewusst sein, dass dieses Verhalten langfristig die Mitarbeiter formt und sich dies wiederum auf den Umgang mit Kunden oder Patienten auswirkt. Frühere Studien haben gezeigt, dass positive Empathie in eine prosoziale Motivation übergehen kann und unter anderem die Kooperations- und Hilfsbereitschaft erhöht. Zu viel Empathie kann jedoch auch einen anderen Weg nehmen und Stress auslösen, der zu Burnout oder vollständigem Rückzug führt. Empathie kann also auch als anstrengend empfunden werden.

„Respekt ist der Nährboden für Empathie“

„Die gute Nachricht aus unseren Studien ist, dass wir Möglichkeiten haben, die Empathiefähigkeit auch bei Erwachsenen durch entsprechende Maßnahmen in beide Richtungen zu formen“, sagt Grit Hein. „Es ist möglich positive Empathie von anderen zu Lernen. Um langfristig zu gedeihen, braucht Empathie aber ein Klima gegenseitigen Respekts. Man kann jemanden respektieren, ohne Empathie mit dieser Person zu haben, aber es ist schwer Empathie zu entwickeln, wenn die andere Person nicht als Mensch respektiert oder Respektlosigkeit in der Gesellschaft akzeptiert wird.“ 

Sind Egoismus und Aggressionen übertragbar?

Die komplexen sozialen Interaktionen gehören zu den Forschungsschwerpunkten von Grit Hein. Um sie zu verstehen, müsse man sehr basal anfangen, die grundlegenden Mechanismen etablieren und puzzleartig aufbauen, also schrittweise um soziale Faktoren erweitern. Aus diesem Grund nahmen wurde die aktuelle Studie nur mit Frauen durchgeführt. Der Effekt wurde allerdings in unterschiedlichen Umgebungen, MRT und Labor, sowie mit Versuchsteilnehmerinnen unterschiedlichen Alters und Ethnizität repliziert. Jüngere und ältere, europäische und asiatische Teilnehmerinnen reagierten vergleichbar. Nachfolgende Studien zur Empathie mit gemischten Geschlechtern seien ein interessanter Ansatz. Im Moment prüft Grit Hein jedoch, ob sich das Modell auch auf andere soziale Verhaltensweisen wie Egoismus oder Aggression übertragen lässt. 

Publikation: 
Yuqing Zhou, Shihui Han, Pyungwon Kang, Philippe N. Tobler, Grit Hein. The social transmission of empathy relies on observational reinforcement learning. PNAS Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America – Psychological and cognitive sciences. February 2024. www.pnas.org/doi/abs/10.1073/pnas.2313073121


Computational modeling ist der Prozess der Erstellung und Analyse von mathematischen oder algorithmischen Modellen, die Phänomene oder Prozesse durch Computersimulationen nachbilden und verstehen.

Die funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRT) ist eine bildgebende Technik, die die Aktivität des Gehirns misst, indem sie Veränderungen im Blutfluss und im Sauerstoffgehalt während bestimmter Aufgaben oder in Ruhezuständen erfasst.
 

Porträtbild von Prof. Dr. Grit Hein
Prof. Dr. Grit Hein erforscht am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg (UKW) Translationale Soziale Neurowissenschaften. © Cordula Buschulte