Prof. Dr. Lorenz Deserno: Wie entstehen psychische Symptome im Zusammenspiel von Gehirn und Verhalten?

Seit diesem Jahr hat Prof. Dr. Lorenz Deserno am Zentrum für Psychische Gesundheit des Uniklinikums Würzburg die W2-Professur für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie inne. Zu seinem Forschungsfokus zählen die Zusammenhänge zwischen der funktionell-strukturellen Entwicklung des Gehirns und impulsivem Verhalten. Langfristiges Ziel ist es, die Diagnose und Therapie von kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen, besonders im Bereich der ADHS, zu verbessern.

„Wir wollen verstehen, wie Hirnprozesse dazu führen, dass sich bestimmte Verhaltensweisen entwickeln und wie daraus psychische Symptome bei Kindern und Jugendlichen entstehen können“, umreißt Prof. Dr. Lorenz Deserno das Kernfeld seiner zukünftigen Tätigkeit an der Klinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (KJPPP) des Uniklinikums Würzburg (UKW). In diesem Frühjahr trat der 1985 geborene Frankfurter die neu definierte W2-Professur für Experimentelle Neurowissenschaften in der Entwicklungspsychiatrie an.

Erfolgreiche Promotion in der Hirnforschung

Ausgangspunkt für die medizinische Karriere von Lorenz Deserno war sein Studium der Humanmedizin an der Charité in Berlin zwischen 2005 und 2012. „Gegen Ende des Studiums entwickelte ich ein besonderes Interesse an der Hirnforschung bei psychischen Erkrankungen“, erinnert sich der Neu-Würzburger. Wegweisend war für ihn dabei seine Doktorarbeit an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie zu kognitiven Defiziten bei schizophrenen Patienten. „Dabei kam ich mit der funktionellen Bildgebung und mit weiteren kognitions-neurowissenschaftlichen Methoden in Kontakt. Ich beschäftigte mich mit der Frage, wie sich in Hirnaktivierungsmustern bestimmte Formen zu denken und zu handeln abbilden“, erläutert Deserno. Für seine Doktorarbeit erhielt er den Hans-Heimann-Preis 2014 der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde sowie den Robert-Koch-Preis 2015 der Charité.

Beschäftigung mit impulsiven Verhaltensweisen

Angespornt durch die spannende Forschungsarbeit und den damit verbundenen Erfolg, stieg der junge Mediziner unmittelbar nach der Approbation in eine rein wissenschaftliche Tätigkeit in der Arbeitsgruppe seines Doktorarbeitsbetreuers ein. Diesem folgte er auch ans Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften nach Leipzig. „Die Arbeit an dieser grundlagenorientierten, außeruniversitären Forschungseinrichtung habe ich als große Bereicherung erlebt“, verdeutlicht Prof. Deserno. Während es in seiner Zeit an der Charité schwerpunktmäßig um schizophrene Erkrankungen ging, wandte er sich in Leipzig impulsiven Verhaltensweisen zu, wie sie beispielsweise bei der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), bei Substanzmissbrauch und bei kontrollverlustartigen Essanfällen auftreten. „So unterschiedlich diese psychischen Symptome und Erkrankungen auch sind, stellt sich doch die spannende Frage, ob dem damit verbundenen, impulsiven Verhalten im Gehirn der Patienten ähnliche Prozesse und Strukturen zugrundeliegen“, sagt der Professor.
Im Verlauf seiner wissenschaftlichen Arbeit zeigte sich außerdem, dass viele dieser Verhaltensweisen ihre Wurzeln in der Kindheit der Betroffenen haben, was Lorenz Deserno in die Kinder- und Jugendpsychiatrie führte – und dort auch in die klinische Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, die er noch in seiner Leipziger Zeit begann.

Spezialkenntnisse zu computationalen Modellen

Als letzte Etappe seiner Karriere vor dem Ruf nach Würzburg forschte er ab dem Jahr 2018 am University College London beim Max Planck UCL Centre for Computational Psychiatry and Ageing Research. „Hier konnte ich speziell meine Kenntnisse in dem noch jungen interdisziplinären Feld der ‚Computational Psychiatry‘ vertiefen“, erläutert Prof. Deserno. Konkret geht es in seinem Fall dabei darum, spezifische Hypothesen zu den oft sehr komplexen neurokognitiven Prozessen mit mathematischen Modellen zu überprüfen. Diese computationalen Modelle gehören zu den wesentlichen Elementen seines Methodenportfolios. Hinzu kommen Fragebögen, Verhaltensexperimente, neuronale Messungen mit Magnetresonanztomographie (MRT), Elektroenzephalogramm (EEG) und Positronen-Emissions-Tomographie (PET) sowie pharmakologische Manipulationen. Ein neuer Zweig umfasst zudem die Erhebung von Daten „online“ oder mit Hilfe des Smartphones.

Von Dopamin und Impulsivität zur Therapie von ADHS

Mit diesen „Werkzeugen“ soll erforscht werden, wie der Neurotransmitters Dopamin die Balance zwischen zielgerichteten und habituellen Verhaltensweisen reguliert. „Wir vermuten, dass Störungen dieses Gleichgewichts ein Grund für Verhaltensweisen sein könnten, bei denen Patienten impulsiv die Kontrolle verlieren“, erklärt Prof. Deserno. Darauf aufbauend will Prof. Deserno am UKW nun unter anderem die psychopharmakologischen Therapieantworten bei Kindern und Jugendlichen mit ADHS untersuchen. Er erläutert: „Wir wissen, dass der unter dem Handelsnamen Ritalin bekannte Arzneistoff Methylphenidat in vielen Fällen eine gute klinische Wirkung zeigt – aber ein gewisser Anteil der Patienten reagiert darauf leider nicht mit einer klinisch zufriedenstellenden Verbesserung.“ Und auch die Kinder, die zunächst gut auf die Therapie ansprechen, zeigen nach seinen Worten häufig nicht zufriedenstellende Langzeitverläufe. „Hier wäre es großartig, wenn es uns gelänge, mit neurokognitiven Methoden einen oder mehrere Marker zu identifizieren, die uns vor Beginn einer Therapie sagen könnten, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Patient positiv auf die Behandlung reagiert“, sagt der Professor.
Ein weiteres, schon in Leipzig von ihm begonnenes Forschungsprojekt soll in Würzburg fortgeführt werden. Hier geht es um die Frage, wie sich jugendliche und erwachsene Patienten mit kontrollverlustartigen Essanfällen, die meist auch adipös sind oder werden, auf der neurokognitiven Ebene von „nur“ adipösen Menschen unterscheiden.
Insgesamt beschreibt er seinen wissenschaftlichen Ansatz als patienten- und kliniknahe Grundlagenforschung. Er betont: „Unser zentrales – und methodisch auch schwierigstes – Ziel ist es, die Diagnose und Behandlung von psychischen Erkrankungen zu verbessern. Daneben – und im Vergleich etwas leichter zu erreichen – haben wir die Chance, unser Detailwissen über das Gehirn zu erweitern.“ Diese Priorisierung versucht Lorenz Deserno auch in der Lehre zu vermitteln. Bei diesem Aspekt seiner Professur liegt ihm nach eigenen Angaben ferner am Herzen, klinisch-wissenschaftliche Werdegänge so zu fördern, dass die jungen Medizinerinnen und Medizinern beide Arbeitspakete leisten können. Bei Interesse an einer medizinischen oder naturwissenschaftlichen Promotion oder einer Abschlussarbeit aus angrenzenden Fächern, wie der Psychologie oder den Kognitions- und Neurowissenschaften, stehen für Nachwuchswissenschaftler/innen und Studierende die Türen offen.

Passendes Forschungsumfeld am UKW

Am Zentrum für Psychische Gesundheit fand der Professor ein Umfeld vor, das sehr gut zu seinen Forschungszielen passt. „An der KJPPP wird die Forschung zu impulsiven Erkrankungen seit langer Zeit gepflegt – zum Beispiel bei ADHS durch den Klinikdirektor Prof. Marcel Romanos und seinen Vorgänger Prof. Andreas Warnke“, beschreibt Prof. Deserno und fährt fort: „Zusätzlich hat sich hier in den letzten Jahren der Schwerpunkt der Entwicklungspsychiatrie herausgeprägt, was man nicht zuletzt an der W2-Professur für Entwicklungspsychiatrie im Rahmen der Erwachsenenpsychiatrie sehen kann, die in 2019 mit Prof. Sarah Kittel-Schneider besetzt wurde .“ Auch das im letzten Jahr in Würzburg gegründete Deutsche Zentrum für Präventionsforschung Psychische Gesundheit (DZPP) passe hervorragend zu seiner wissenschaftlichen Ausrichtung.
Prof. Lorenz Deserno trat die Professur am UKW formal zum 1. Februar 2020 an. Es folgte eine fünfmonatige Elternzeit, so dass er seine Forschungsarbeit Anfang Juli aufnehmen konnte.

 

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Ein langfristiges Ziel von Prof. Dr. Lorenz Deserno ist es, Methoden aus der kognitiven und computationalen Neurowissenschaft auf ihre klinische Relevanz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu überprüfen. Bild: Charite/Mediendienstleistungen/Baar

Ein langfristiges Ziel von Prof. Dr. Lorenz Deserno ist es, Methoden aus der kognitiven und computationalen Neurowissenschaft auf ihre klinische Relevanz in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu überprüfen. Bild: Charite/Mediendienstleistungen/Baar

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